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Das Gedächtnis der Tiere

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AUTOR/IN
Rainer B. Langen
ONLINEFASSUNG
Ulrike Barwanietz & Ralf Kölbel

Wie das Gedächtnis funktioniert und unter welchen Bedingungen es sich entwickelt hat, wollen Forscher unter anderem bei Fliegen, Zebrafischen und Schimpansen herausfinden. Letztlich erfahren Biologen, Hirnforscher und Anthropologen dadurch mehr darüber, was Tiere von Menschen unterscheidet.

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Wer das Gedächtnis erforschen will, hat eine große Herausforderung angenommen. Denn das menschliche Gehirn besteht aus 100 Milliarden Nervenzellen. Jede einzelne steht mit 1000 anderen in Verbindung.

Das Gehirn hat viel zu tun: Es muss Informationen aus der Umwelt verarbeiten, muss Sprache, Verhalten und Bewegungen steuern, aber auch abspeichern, aussortieren und erinnern. Dazu untersuchen die Wissenschaftler weniger komplexe Gehirne von Tieren. Wie zum Beispiel die Larven von Zebrafischen.

Ein kleiner Fisch möchte zum Schwarm

Am Frankfurter Max-Planck-Institut ist Doktorand Lukas Anneser mit den Vorbereitungen für das Lernexperiment mit den Zebrafischlarven fast fertig. Er muss sie noch in ihre "Klassenzimmer" befördern. Aus einer Glasschale saugt er mit einer großen elektrischen Pipette Wasser an.

Hirn (Foto: SWR, SWR -)
Das menschliche Gehirn besteht aus 100 Milliarden Nervenzellen, jede einzelne steht mit 1000 anderen in Verbindung

Darin schwimmen einige der Fischchen, erkennbar als winzige dunkle Punkte. Behutsam lässt er Wasser in ein kleines Kunststoffbecken fließen. Es ist etwas größer als eine Tafel Schokolade. Glaswände teilen es in mehrere separate Abteile.

Der Biologe setzt einen Minifisch alleine in einem Abteil ab und drei andere gemeinsam im Nachbarabteil. Sie bilden einen kleinen Schwarm. Der einsame Fisch kann die anderen sehen und schwimmt dahin, wo er dem Schwarm möglichst nahe ist.

Positive Erlebnisse mit schwarzen Punkten

Das nutzen Lukas Anneser und eine Kollegin für das Lerntraining aus. Sie haben für die Single-Fischchen schwarze Punkte auf die durchsichtige Trennwand gemalt. Diese können sie zusätzlich zum Schwarm nebenan sehen. Sie lernen, das positive Erlebnis, dem Schwarm nahe zu sein, mit den Punkten zu verknüpfen.

Später bekommen sie das Nachbarabteil an einem Ende nur noch mit schwarzen Punkten zu sehen, ohne Artgenossen. Die Single-Fische können dann wählen, ob sie sich bei den Punkten aufhalten oder am anderen Ende, wo sie nur das leere Nachbarabteil sehen.

Wildschwein (Foto: Getty Images, Thinkstock -)
Wildschweine in Berlin wissen aus Erfahrung: Sie sollten die Zeit nach den Tagesthemen lieber am Waldrand abwarten

Lukas Anneser und sein Team haben sehr viele Versuche dieser Art gemacht. Im Durchschnitt zeigte sich eine deutliche Vorliebe für die Punkte. Die Fische haben gelernt, die Punkte mit einer positiven Erinnerung an den Schwarm zu verknüpfen.

Verhalten ohne Gedächtnis

Für einige Verhaltensweisen benötigen Tiere kein Gedächtnis. Gänseküken laufen stur dem erstbesten Objekt hinterher, dem sie nach dem Schlüpfen aus dem Ei begegnen. Sie halten es für ihre Mutter. Eine Spinne muss nicht im Gedächtnis kramen, um zu wissen, wie sie ihr Netz zu spinnen hat.

Und eine Biene baut die Wabe im Nest präzise ohne Plan. Sie alle folgen genetischen Programmen. Aber für viele andere Situationen reichen angeborene Verhaltensweisen nicht aus. Tiere müssen Entscheidungen treffen. Die Informationen dafür sammeln sie im Gedächtnis. Das kann ein räumliches Gedächtnis sein, wie es Eichelhäher mitunter brauchen.

Ein einziger dieser Vögel versteckt übers Jahr Tausende Eicheln und Nüsse in seinem Revier. Die meisten vergräbt er. Wenn im Winter die Landschaft von Schnee bedeckt ist und alles ganz anders aussieht, findet der Eichelhäher seine Vorräte trotzdem mit eindrucksvoller Sicherheit.

Die Schatzkarte der Eichelhäher

Dank guten Gedächtnisses behalten die Vögel eine Art Schatzkarte im Kopf. Sie merken sich, wo – vom Versteck aus gesehen – Bäume oder andere Landmarken stehen. Und in welcher Richtung und Entfernung von diesen markanten Punkten sie ihre Schätze verscharrt haben.

Wildschweine in Berlin wissen aus Erfahrung: Bevor sie zum nächtlichen Streifzug in Siedlungsgebiete aufbrechen, sollten sie die Zeit nach den Tagesthemen lieber am Waldrand abwarten. Denn direkt danach führen Hundebesitzer noch einmal ihre Vierbeiner Gassi. Und denen gehen die meisten Borstentiere lieber aus dem Weg.

Die mühsame Grundlagenforschung ist erforderlich, um einfachste Prinzipien des Gedächtnisses zu verstehen. Wesentlich komplexer ist bei höheren Lebewesen die Erinnerung an soziale Interaktionen. Und je komplexer diese bei einer Art sind, desto mehr Gehirnmasse hat sich im Laufe der Evolution bei einer Art entwickelt, besagt eine gängige Hypothese in der Zoologie.

100 Kontakte abgespeichert

Doch die Erkenntnisse über die Fähigkeiten von Tieren nehmen zu. Sie relativieren unser Bild von der Einzigartigkeit des Menschen. Bei manchen Gedächtnisleistungen scheinen uns einige Arten sogar überlegen. Das Gedächtnis der Elefanten etwa ist legendär.

Elefanten verfügen über eine unglaubliche Menge an Informationen über andere Individuen, mit denen sie Beziehungen pflegen. Ein Elefant kann die individuellen Rufe von mehr als 100 Artgenossen erkennen.

Professor George Wittemyer von der Colorado-State-University in den USA leitet eine Organisation zum Schutz von Elefanten und erforscht seit langem das Leben dieser Tiere in der freien Natur. Ihr Sozialleben könnte dazu beigetragen haben, dass sie im Lauf der Evolution große, komplexe Gehirne entwickelt haben.

Herde ohne Gedächtnis überlebt nicht

Das ist eine der möglichen Erklärungen. Eine weitere Erklärung könnte in der Notwendigkeit liegen, dass sie hochgenaue räumliche Karten der Umgebung im Kopf haben. Das wird als weiterer Antreiber für die Evolution komplexer Gehirne diskutiert. Denn Elefanten gehören zu den Säugetieren mit den größten Streif- und Wandergebieten.

Je älter Elefanten sind, desto mehr Wissen haben sie im Lauf ihres Lebens im Gedächtnis gesammelt. Deshalb werden Elefantenherden normalerweise von alten erfahrenen weiblichen Tieren angeführt, den so genannten Matriarchinnen. Wenn sie fehlen, fehlt der ganzen Gruppe das Gedächtnis.

Die alten Tiere erinnern sich an Zufluchtsorte von früheren Dürreperioden, selbst wenn sie Jahrzehnte zurückliegen. Sie haben überlebenswichtiges Wissen für die ganze Gruppe im Kopf. Die Jüngeren können sich das erst im Lauf der Jahre aneignen, wenn sie von den Älteren lernen.

Wenn Tiere das Gedächtnis verlieren

Stirbt ein alter Elefant vor diesem Transfer, ist das Wissen für die Gruppe verloren. Das passiert, wenn Wilderer die großen Tiere wegen ihrer langen Stoßzähne jagen und töten.

Aber genauso in Europa greift der Mensch mit seiner Lebensweise den Erfahrungsschatz und damit das Überleben von Tieren an. Das Gehirn und das Gedächtnis von Bienen beispielsweise wird durch Pflanzenschutzmittel der Landwirtschaft beeinflusst, warnt der Berliner Bienenexperte Professor Randolf Menzel. Bienen vergessen, wo sie ihre Blüten finden, oder ihren Stock. Oder sie wissen nicht mehr, wie sie sich mit ihren Kolleginnen verständigen können. Sie haben ihr Gedächtnis verloren.

Für Forscherinnen und Forscher gibt es beim Gedächtnis noch viele offene Fragen. Zum Beispiel: Wie behält ein Gedächtnis, wie viel Zeit vergangen ist und wie sortiert es Erinnerungen aus, die nicht mehr benötigt werden oder fehlerhaft sind?

Beim menschlichen Gedächtnis nehmen medizinische Fragen wie die Therapie von Alzheimer breiten Raum ein. Biologen, Psychologen und Mediziner wissen auch noch nicht genau, wie das Gedächtnis die Information über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft so abbildet, dass Menschen und Tiere Entscheidungen treffen, die ihr Überleben sichern.

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