Netzkultur

Dada, Pop und Politik: Auf TIktok verbreitet #corecore Kunstwerke aus Videoschnipseln

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AUTOR/IN
Max Knieriemen

Unter dem Hashtag #Corecore verbergen sich auf Tiktok oder Youtube kleine Medienkunstwerke: Collagen aus Dokus, Filmen, Memes und Internetfundstücken aller Art – Minidokumentarfilme voller popkultureller Referenzen. Corecore-Videos prangern Umweltzerstörung und Einsamkeit an, die Kehrseiten von Massenkonsum und digitalem Leben und damit irgendwie auch sich selbst. Genau das macht sie so interessant.

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Kunstwerke aus Netzschnipseln

Filmausschnitte, Memes und Internetfundstücke: Ein Mann schaut ruhig während hinter ihm ein Haus abbrennt. Eine schimmelnde Kiwi im Zeitraffer, genauso wie ein grüner Hügel, auf dem Schafe hin und hergetrieben werden. Ein rauchender Jean-Paul Belmondo, Christian Bale in American Psycho und Brad Pitt in Fight Club.

Es sind Clips, die scheinbar gar nicht so recht zusammenpassen. Unter allem liegt mal nachdenkliche, mal emotionale, meist dunkle Musik. Zwischendurch ist der Ton zu einem vielsagenden Zitat zu hören, oder der Ton zum Bild einer Schwarz-Weiß-Aufnahme von einem Mann, der in einer Gummizelle um sich schlägt.

KURZ OT IM ON (@plantaniac, Quelle: https://www.tiktok.com/@plantaniac/video/7134420867685076270 )

-core als Code für abseitige Subkulturen im Netz

Es sind kleine Kunstwerke, die unter dem Hashtag #Corecore auf Tiktok und anderen Videoplattformen zu finden sind. Die Ursprünge von Corecore liegen auf der Microblogging-Platform tumblr um das Jahr 2020.

Der Ausdruck nimmt ironisch Bezug auf den inflationären Gebrauch des Suffix -core in dieser Zeit für immer abseitigere Internetsubkulturen, wie Fairycore, Ghostcore oder Meatcore. Corcore verbindet sie alle, die düsteren Nischen der Online-Jugendkultur, entsprechend wird der Hashtag, gerade bei Tiktok, häufig synonym zur Bezeichnung Nichecore verwendet.

Remix aus Popkultur und Politik

Corecore, das sind Minidokumentarfilme voller popkultureller Referenzen, angelehnt an den Stil des britischen Dokumentarfilmers Adam Curtis. Es geht um Entfremdungserfahrungen, Einsamkeit, Klimawandel und die Kehrseiten der kapitalistischen Weltordnung.

Ein vielgeteiltes Video von TikTok-User Mason Noel bringt schmelzende Polkappen und die Zerstörung der Regenwälder mit zeitgenössischer Konsumkultur in Verbindung.

Dadaismus der 2020er Jahre

Häufig wird Corecore mit dem Dada verglichen. Ähnlich wie die Avantgarde der 1920er schöpft die digitale Subkultur der 2020er aus der neuen Zusammensetzung und Collage widersprüchlicher Videoschnipsel neuen Sinn.

TikToker Sebastian Valencia hat viele bunte Schnipsel in TikTok untereinander montiert, als würde der Nutzer gedankenlos von einem Video zum anderen weiterzappen oder doomscrollen.

Wake Up! Wach auf! Ist dann zu lesen und es folgen Menschen, die auf Bildschirme starren.

Umweltzerstörung und Einsamkeit: Corecore-Videos prangern die Kehrseiten des Massenkonsums und digitalen Lebens an und damit irgendwie auch sich selbst. Genau das macht sie so interessant.

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Was geht - was bleibt? Zeitgeist. Debatten. Kultur. Sieben Stunden Bildschirmzeit: Geht Leben noch analog?

Mehr als acht Stunden am Smartphone, dazu 270 Mitteilungen - und das an einem einzigen Tag! Christian muss ganz schön schlucken, als er seine Handyzeit prüft. Und auch Pia würde das Handy gern öfter daheim liegen lassen. Nur leider ist das Smartphone im Alltag nicht mehr wegzudenken: Im Café gibt es das Menü nur über einen QR-Code, das Handy lotst einen durch die Stadt, es ersetzt die Uhr und auch immer öfter die EC-Karte: Ohne es zu hinterfragen, ist das Smartphone für viele der erste Gegenstand, den sie morgens in die Hand nehmen und abends aus der Hand legen. Ist Offline also der neue Luxus?

Der Buchautor und Politikwissenschaftler Andre Wilkens setzt auf einen “analogue Friday”: “Das ist ein Tag im Büro, an dem ich nicht am Computer und am Smartphone arbeite. Ich kann den ganzen Tag Sachen erledigen und bin nicht abgelenkt durch E-Mails oder Messenger.” Aber Wilkens weiß auch, dass man sich diesen Luxus leisten muss. Darüber schreibt er in seinem Buch “Analog ist das neue Bio”: “Menschen, die ärmer sind, müssen digital sein. Sie müssen digitale Deals machen und dafür mit ihren Daten bezahlen. Und die, die es sich leisten können, können digitale Retreats machen und alle Geräte abschalten.” Er plädiert für mehr Balance zwischen digital und analog.

Dass mehr Digitalisierung das Leben nicht unbedingt einfacher macht, das beobachtet Rena Tangens, Internetpionierin und Gründerin des Vereins ”Digitalcourage”: “Uns wird sehr viel Arbeit aufgebürdet. Wir müssen uns mit schlechter Software und den Geräten auseinandersetzen, damit auf der anderen Seite gespart wird.” Auch Pias Mama, unser Special Guest der Folge, macht das Sorgen: Wenn bei der Post oder im Bahnhof künftig nur Apps und keine Menschen weiterhelfen. “Daran möchte ich mich gar nicht erst gewöhnen.”

Wie viel Bildschirmzeit habt ihr durchschnittlich? Oder fällt es euch leicht, mal eine Weile offline zu sein? Mailt uns, auch mit Feedback und Themenvorschlägen, an kulturpodcast@swr.de.

Hosts: Pia Masurczak und Christian Batzlen
Showrunner: Kristine Harthauer

Tipps, um weniger zum Handy zu greifen, hat der Neurologe Martin Korte: “Frisch im Kopf” heißt sein Buch. Es ist bei DVA erschienen.

Und wie die digitale Revolution unser Leben in Zukunft verändern wird, darüber denkt Andre Willkens in “Analog ist das neue Bio. Eine Navigationshilfe durch unsere digitale Welt” nach. Erschienen bei Metrolit.

Wer genervt ist vom Digitalzwang im Alltag, also von Läden und Anbietern, bei denen nichts mehr geht, ohne eine App und ohne Daten, der kann das hier melden: https://civi.digitalcourage.de/digitalzwangmelder

Hier noch ein Podcast-Tipp aus der Redaktion: In "nicht witzig - Humor ist, wenn die anderen lachen" spricht der Journalist und Autist Manuel Stark mit den witzigsten Menschen Deutschlands - und bringt sie in so manche Erklärungsnöte: https://www.ardaudiothek.de/sendung/nicht-witzig-humor-ist-wenn-die-anderen-lachen/12662427/

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Max Knieriemen