Zeichnung mit den Karikaturen von Gudrun Ensslin, Herman Melville, Rumpelstilzchen, Ludwig Wittgenstein und Jacob Grimm (Foto: SWR, (privat) - Ulf Stolterfoht)

SWR2 ars acustica

ein strumpf wächst durch den tisch

Stand

Hörspiel von Ulf Stolterfoht (Text) und Thomas Weber (Musik)

Auf Grundlage der Kassiber, mit denen sich die isolierten RAF-Gefangenen während des Hungerstreiks in Stammheim verständigten, versucht das Stück, etwas über die Macht von Namen und Benennungen herauszubekommen und darüber, wie sich Hierarchien sprachlich abbilden und verfestigen. Als Überraschungsgäste treten auf: Ludwig Wittgenstein, Herman Melville und höchstwahrscheinlich auch das Rumpelstilzchen. Soweit das reichlich willkürliche Setting. Querverbindungen und Vorwegnahmen zuhauf.

Auszüge aus dem Hörspielmanuskript von Ulf Stolterfoht

"Auf Anraten Freges tauchte Wittgenstein am 18. Oktober 1911 in der Sprechstunde Russells auf. Vom nächsten Tag an dominierte er die Diskussionen in seiner Vorlesung über mathematische Logik."

"Am Morgen des 18. Oktober 1977 wurden in ihren Zellen tot aufgefunden: Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe. Irmgard Möller überlebte mit Stichverletzungen im Brustbereich."

"'sone art strumpf, den die gefangenen von prozeß zu prozeß stricken, an ihrem lernprozeß, ihrer connection, bis, naja, er durch den tisch gewachsen ist: die revolution', schreibt Andreas Baader den Stammheimer Mitgefangenen in einem Kassiber vom 22. April 1976. Und während in den Zellen weitergestrickt wird am revolutionären Strumpf, sitzt in einem anderen Kämmerchen die verzweifelte Müllerstochter und weiß sich um ihr Leben keinen Rat, wie denn das Stroh zu Gold zu spinnen wäre. 'Heißest du etwa Wittgenstein?', will sie vom Männlein wissen. 'Heißest du Starbuck, Schnürbein, Ahab, Quiqueg, Hammelwade? Heißest Du etwa Lazarus?' 'Nein, nein, so heiß ich nicht!' Etwas Lebendes ist ihm nämlich viel lieber als alle Schätze der Welt. Und wie, wenn jeder etwas Lebendes in einer Schachtel hätte, einen Käfer zum Beispiel, und wüsste nur vom Anblick seines Käfers, was ein Käfer ist. – Da könnte es ja sein, dass jeder etwas anderes in seiner Schachtel hätte. Und durch den Namen wäre zu kürzen. 'Das hat dir der Ludwig gesagt, das hat dir der Ludwig gesagt', schrie da das Männchen und riß sich selbst mitten entzwei. (…)"

Das Kammerflimmer Kollektief macht dazu

Evolution & Revolution. Gun control & sound of soul. Und spielt sich hörend durch Andreas Baaders Plattensammlung.

Mit: Kathrin Wehlisch, Markus Meyer und dem Kammerflimmer Kollektief (Heike Aumüller, Christopher Brunner, Johannes Frisch, Thomas Weber)

Komposition: Thomas Weber
Regie: Iris Drögekamp und Thomas Weber
(Produktion: SWR 2019)

Ulf Stolterfoht

geboren 1963 in Stuttgart, lebt seit 1994 als Schriftsteller und Übersetzer in Berlin. Er ist Knappe der Lyrikknappschaft Schöneberg, Mitglied der Berliner und der Darmstädter Akademie, des PEN-Clubs und betrieb den Verlag Brueterich Press. Peter-Huchel-Preis 2008 für den Gedichtband "holzrauch über heslach".

Thomas Weber

geboren 1969 in Karlsruhe, gründete 1996 das Musikprojekt Kammerflimmer Kollektief. Hier, wie als Musiker, Produzent und Komponist, arbeitet er in akustischen und elektronischen Kontexten. Daneben realisiert er Hörspiele und Filmmusiken.

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