Musikstück der Woche

Kammerchor figure humaine interpretiert Lili Boulangers „Les Sirènes“

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Jörg Lengersdorf
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Dominic Konrad

Lili Boulanger wird in eine Musikerfamilie geboren. Ihr großes Ziel: der Prix de Rome, einer der renommiertesten Musikpreise seiner Zeit. Schon vorher schlug ihr Werk „Les Sirènes“ hohe Wellen.

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Im Schatten der großen Schwester Nadia?

Hinter prachtvoller Front zu den verwinkelten Straßen des Pariser Viertels Montmartre, umgeben von Musik und Kunst, beginnt die Lebensreise von Marie-Juliette Olga Boulanger, Rufname „Lili“.

Im intellektuell hochfrequentierten elterlichen Salon erwacht ihre Neugier für die Künste. Ihr Vater Ernest ist Dirigent, Komponist, Sänger und Professor am Konservatorium, ihre Mutter Raissa ist ebenfalls Sängerin. Und ihre sechs Jahre ältere Schwester Nadia gilt als musikalisches Wunder.

Schon im Alter von fünf Jahren singt Lili Lieder von Gabriel Fauré, der Meister selbst spielt dazu am Klavier. Sie parliert mit den Gästen nicht nur Französisch, sondern spricht auch Russisch, Deutsch und Italienisch – ein weiteres Genie in der Familie, das bald darauf als Geigenwunder der Öffentlichkeit präsentiert werden kann.

Lili Boulanger (rechts) und ihre Schwester Nadia (Foto: IMAGO, IMAGO / KHARBINE-TAPABOR)
Lili Boulanger (rechts) und ihre Schwester Nadia auf dem Cover der französischen Zeitung „Le Miroir“ nach Lilis Sieg beim Prix de Rome im Jahr 1913. Auch Nadia hatte den Preis fünf Jahre zuvor gewonnen.

Der tragische Tod des Vaters bringt Lilis erste Komposition hervor

Im Jahr 1900, Lili ist gerade sieben Jahre alt, verstirbt völlig überraschend ihr Vater während eines Gesprächs mit der älteren Schwester. „La Lettre de mort“, der „Todesbrief“, wird die erste nachweisbare Komposition der Halbwaise, erhalten bleibt allerdings lediglich die Skizze einer Melodie.

Wie ihr verstorbener Vater und einige der illustren Gäste der heimischen Salons vor ihr, möchte nun auch Lili Boulanger den begehrten Kompositionspreis „Prix de Rome“ gewinnen und in die Fußstapfen des verlorenen Elternteils treten. Sie tritt damit in Konkurrenz zu ihrer Schwester.

Komponistin Lili Boulanger (1893 - 1918) (Foto: IMAGO, IMAGO / piemags)
Lili Boulanger stirbt nach längerer Krankheit am 15. März 1918. Sie ist erst 24 Jahre alt. Noch auf dem Krankenbett schreibt sie eine ihrer bedeutendsten Kompositionen, das „Pie Jesu“.

Lili Boulanger orientiert sich am Vorbild Debussy

In Vorbereitung ihrer ersten Bewerbung – sie wird erst im zweiten Anlauf, kurz vor ihrem frühen Tod, sensationell gewinnen – schreibt Lili Boulanger wohl auch „Les Sirènes“ („Die Sirenen“) und orientiert sich dabei an einem der vergangenen Preisträger: Claude Debussy.

In „Sirènes“ aus seiner zwei Jahre früher veröffentlichten Orchestersuite „La Mer“ verwendet Debussy einen gemischten Chor, der mit dem Orchester interagiert, um die Klanglandschaft des Meeres und die lockenden Rufe der Sirenen darzustellen.

Wie Debussy verwendet Lili Boulanger einen Chor, der teils vokalisierend eingesetzt wird. Selbst die harmonischen Progressionen folgen stellenweise dem Vorbild.

Die kleine Schwester triumphiert

Die Pariser Zeitung Le Monde Musical schreibt dazu am 30. März 1912:

Volles Haus bei Madame Boulanger! Besonders gespannt war man auf das besondere Ereignis des Abends gewesen – die ‚kleine Schwester‘ Lili debütierte als Komponistin. Ihr Sirenenchor beweist bereits eine solide Technik, und das Gesangsquartett ist von außerordentlich frischer Inspiration.

Der vertonte Text entstammt einem wohl 1888 entstandenen Gedicht des Zeitgenossen Charles Jean Grandmougin. Die Meereskreaturen, deren unwiderstehlicher Gesang Seefahrer auf die Felsen lockt, rühmen sich mit betörenden Klängen ihrer tödlichen Schönheit.

Les SirènesDie Sirenen
Nous sommes la beauté qui charme les plus forts,
Les fleurs tremblantes de l'écume
Et de la brume,
Nos baisers fugitifs sont le rêve des morts !

Dans les profondeurs azurées
Et sacrées
Nous vivons loin du soleil d'or,
Et les voiles de la nuit brune
Même sans lune,
Sont le signal de notre essor !

Parmi nos chevelures blondes
L'eau miroite en larmes d'argent,
Nos regards à l'éclat changeant
Sont verts et bleus comme les ondes !

Avec un bruit pareil aux délicats frissons
Des moissons
Nous voltigeons sans avoir d'ailes;
Nous cherchons de tendres vainqueurs,
Nous sommes les sœurs immortelles
Offertes aux désirs de vos terrestres cœurs !
Wir sind die Schönheit, die die Stärksten betört,
Die zitternden Blumen des Schaums
Und des Nebels,
Unsere flüchtigen Küsse sind der Traum der Toten!

In den azurblauen
Und heiligen Tiefen
Leben wir fern der goldenen Sonne,
Und die Schleier der dunklen Nacht
Auch ohne Mond,
Sind das Zeichen unseres Aufstiegs!

Zwischen unseren blonden Haaren
Schimmert das Wasser in silbernen Tränen,
Unsere Blicke mit wechselndem Glanz
Sind grün und blau wie die Wellen!

Mit einem Klang ähnlich den zarten Schauern
Der Erntezeit
Wir schweben, ohne Flügel zu haben;
Wir suchen zärtliche Sieger,
Wir sind die unsterblichen Schwestern,
Den Begierden eurer irdischen Herzen gewidmet!
(Übersetzung: Jörg Lengersdorf)

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