Musikstück der Woche vom 10.5. bis 16.5.2010

Versprochen ist versprochen

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AUTOR/IN
Antonia Bruns

Gregorianische Klänge in Anton Bruckners Motette "Os justi"

Anton Bruckner sollte für den Chordirektor von St. Florian eine Motette schreiben. Sein Problem: Der Chorleiter liebte nur Klänge à la Palestrina und konnte moderne Kirchenmusik nicht leiden. Im Musikstück der Woche hören Sie, wie Bruckner schließlich komponierte, um den Chordirektor zufrieden zu stellen. Das SWR-Vokalensemble singt das "Os justi" unter der Leitung von Marcus Creed, aufgenommen im März 2007 in der Kirche St. Michael in Stuttgart-Sillenbuch.

Ein Geschenk für die Augustiner

Anton Bruckner spazierte 1879 durch die Straßen von Wien und summte glücklich vor sich hin. Die Sonne strahlte vom Himmel auf die Häuserdächer und Plätze und erinnerte ihn daran, dass der Sommer endlich gekommen war. Für Bruckner bedeutete das: Auf nach St. Florian! In diesem österreichischen Augustinerstift verbrachte er nämlich regelmäßig seine Ferien, nachdem er dort zehn Jahre lang als Lehrer und Organist tätig gewesen war. Voller Vorfreude überquerte Bruckner eine Straße, da fiel es ihm plötzlich wieder ein: Er hatte ja dem Chordirektor von St. Florian, Ignaz Traumihler, versprochen, ein Graduale für das Augustinerfest am 28. August zu komponieren. Eigentlich kein Problem, wäre Traumihler bloß kein überzeugter Cäcilianer, der keinen Sinn hatte für modernere Kirchenkompositionen. Bruckner überlegte, während ihn seine Beine wie von selbst nach Hause trugen, wie er Traumihler glücklich stimmen könnte. Ein Chorwerk a cappella, das wäre vielleicht was! Geschrieben natürlich in einer Kirchentonart. Lydisch! Also F-Dur ohne b. Noch am selben Nachmittag machte sich Bruckner mit Notenpapier, Bleistift und Radiergummi an die Arbeit.

Das undatierte Archivbild zeigt den 1896 gestorbenen Komponisten Anton Bruckner (Foto: picture-alliance / dpa, picture-alliance / dpa -)
Der Komponist Anton Bruckner

Die erste Fassung der achtstimmigen Motette "Os justi" war am 18. Juli fertig. Pünktlich zu Traumihlers Namenstag schickte Bruckner die Partitur eine Woche später nach St. Florian mit den Worten: "Sehr würde ich mich freuen, wenn E. H. ein Vergnügen daran finden wollten. Ohne Kreuz und b, ohne Dreiklang der 7. Stufe, ohne 6/4 Akkord, ohne Vier- und Fünfklänge." Doch obwohl sich Bruckner soviel Mühe gegeben und auf Modernität verzichtet hatte, begriff Ignaz Traumihler die lydische Tonart nicht – und das trotz "cäcilianischer" Ohren! "Ja, was ist denn das?", wunderte er sich in der ersten Leseprobe mit seinen Sängern. Er schickte die Noten zurück und Bruckner musste das Graduale umarbeiten. Mit der zweiten Fassung war Ignaz Traumihler schließlich zufrieden. Vor allem das unisono-"Alleluia" am Ende, das wie ein gregorianischen Choral klingt, ließ sein Herz sicher höher schlagen. Von diesem Sommer an sang der Chor von St. Florian das "Os justi" jedes Jahr zum Augustinerfest.

Die Motette "Os justi" ist ein Höhepunkt in Bruckners a-cappella-Musik und zählt zu den gehaltvollsten unbegleiteten Chorsätzen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In seiner Wiener Zeit (1868-1896) hat Bruckner sich vor allem auf sinfonische Werke konzentriert und deswegen wenig größere Vokalwerke geschrieben. Neben "Os justi" entstanden nur die drei weiteren Gradualien "Virga Jesse", "Locus iste" und "Christus factus est".

SWR Vokalensemble Stuttgart

Mitglieder des SWR Vokalensembles Stuttgart  beim Konzert auf der Empore (Foto: SWR, SWR - Jacques Lévesque)
SWR Vokalensemble Stuttgart

Die Geschichte des SWR Vokalensembles Stuttgart spiegelt in einzigartiger Weise die Kompositionsgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts wieder. Auf Beschluss der Alliierten und im Zuge von Demokratisierungsmaßnahmen wurden 1946 Rundfunkanstalten und Ensembles gegründet, darunter auch der damalige Südfunkchor. Ihm kam die Aufgabe zu, das Schallarchiv mit Musik aller Arten und für jegliche Anlässe zu versorgen. Mit dem Dirigenten Hermann Joseph Dahmen, der den Chor von 1951 bis 1975 leitete, begann die Zeit der allmählichen Spezialisierung auf Neue Musik. Von 1953 an vergab der Chor regelmäßig Kompositionsaufträge.

Zu internationaler Reputation als Ensemble für Neue Musik gelangte das SWR Vokalensemble mit seinen späteren Chefdirigenten Marinus Voorberg, Klaus-Martin Ziegler und mit Rupert Huber. Schon Voorberg, insbesondere aber Huber formte den typischen Klang des SWR Vokalensembles, geprägt von schlanker, gerader Stimmgebung. Viele der mehr als 200 Uraufführungen, die in der Chronik des SWR Vokalensembles verzeichnet sind, hat er dirigiert. Auf diesem Niveau konnte Marcus Creed aufbauen, als er 2003 die Position des Chefdirigenten übernahm. Dem Ensemble ging zu diesem Zeitpunkt bei Fachpresse und Publikum längst der Ruf voraus, in konstruktiver Offenheit mit den Schwierigkeiten zeitgenössischer Partituren umzugehen.

In seinen ersten Stuttgarter Jahren legte Creed, der als einer der profiliertesten Dirigenten internationaler Profichöre gilt, seine Arbeitsschwerpunkte deshalb auf das Vokalwerk von György Ligeti, Luigi Dallapiccola und Luigi Nono. Darüber hinaus setzte er die Reihe der Uraufführungen fort. Intensiviert wurde vor allem die Zusammenarbeit mit Georges Aperghis, Heinz Holliger und György Kurtág. Die Studioproduktion des SWR Vokalensembles Stuttgart erscheinen zu einem großen Teil auf CD und werden regelmäßig mit internationalen Preisen ausgezeichnet, darunter der Preis der Deutschen Schallplattenkritik, der Grand Prix du Disque und der Midem Classical Award.

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Antonia Bruns