Kommentar

Lasst sie singen! Anna Netrebko an der Berliner Staatsoper

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AUTOR/IN
Albrecht Selge

Anna Netrebko, die als Liebling des Kremls galt, hat seit dem russischen Überfall auf die Ukraine viele Auftritte in Europa und Nordamerika abgesagt. Andernorts wurde sie vor die Tür gesetzt, etwa in New York. Aber an der Berliner Staatsoper Unter den Linden soll sie am 15. September in Verdis „Macbeth“ auftreten. Dagegen gibt es heftige Proteste und auch eine Petition, die schon von Tausenden unterzeichnet wurde. Zurecht?

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Nein, Anna Netrebko ist keine Marlene Dietrich. Die stellte sich vor 85 Jahren in die erste Frontreihe gegen ihr Heimatland, als dieses die Welt mit Schrecken und Verbrechen überzog. Dafür wurde sie noch lange nach dem Krieg in Deutschland angegiftet und diffamiert. Marlene Dietrich war bewundernswert. 

„An Netrebkos Haltung ist nichts bewundernswert“

An Netrebkos Haltung ist nichts bewundernswert. Sie hat, nachdem sie zunächst herumlavierte, eine zurückhaltende Erklärung abgegeben, die gerade so eindeutig genug war. Genau das Nötige, mehr nicht: „Ich verurteile den Krieg gegen die Ukraine ausdrücklich.“

Ist also der Zorn gerecht, den Anna Netrebkos geplanter Auftritt an der Berliner Staatsoper Unter den Linden auslöst? Es wäre eine Anmaßung, wollte man Ukrainern ihre heftige Abneigung gegen Netrebko und andere russische Stars vorwerfen. Und allzu billig wäre die Phrase, es ginge ja nur um Kunst, die sei unpolitisch. Netrebko ließ sich, zumindest passiv politisch, lange Zeit für Kreml-Propaganda einspannen.

Politische Doofheit in der Vergangenheit ist kein Verbrechen

Ließ, nicht lässt. Zu einer Zeit, als auch führende westliche Politiker noch den Verbrecher Putin hofierten. Ich finde: Politische Doofheit einer Nichtpolitikerin in der Vergangenheit ist kein Verbrechen. Und man mag sich wünschen, aber man darf nicht verlangen, dass ein Mensch mehr als das Nötige tut. Das Nötige, das etwa ein Valery Gergiev verweigerte, der niemals gesagt hat: „Ich verurteile den Krieg gegen die Ukraine ausdrücklich.“

Netrebko ist keine Dietrich, aber auch kein nach wie vor kremltreuer Gergiev. Ich finde, dass die Wut gegen die Sängerin mittlerweile über das gerechte Ziel hinausschießt. Man kann menschlich enttäuscht sein, dass diese bedeutende Sängerin nicht mehr als das unbedingt Nötige von sich gibt. Man kann sich wünschen, ihr Gewissen würde sie zu mehr rufen. Man kann sie auch nicht mehr hören wollen, nicht hingehen, natürlich!

Nicht auf symbolische Nebenschauplätze kämpfen, sondern da wo es wirklich darauf ankommt

Aber der Furor, mit dem ihr Rausschmiss verlangt wird, kommt mir wie eine Art Ersatzhandlung vor. Fast wie „burn the witch“ – weil man die wahren Teufel nicht in die Finger bekommt, die für die russischen Verbrechen gegen die Ukraine verantwortlich sind. 

Auch wenn es manche aufregen wird – ich bin der Meinung: Lasst Netrebko singen. Den Überlebenskampf der Ukraine gegen Russland sollte man hingegen nicht auf überfrachteten symbolischen Nebenschauplätzen unterstützen, sondern da, wo es wirklich darauf ankommt, politisch und militärisch.

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Albrecht Selge