Premierenbericht

Keine Angst vor kultureller Aneignung: LiedLab beim Heidelberger Frühling

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AUTOR/IN
Martina Senghas
ONLINEFASSUNG
Sebastian Kiefl

Hinter der Marke „Heidelberger Frühling“ steckt inzwischen nicht mehr nur das Klassikfestival in der namengebenden Jahreszeit, sondern auch das sogenannte Liedfestival im Frühsommer. Begonnen hat es am vergangenen Mittwoch mit einer experimentellen Veranstaltung aus dem LIED.LAB.

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Wandelkonzert durch die Welt in Heidelberg

Zehntausend Kilometer, die kann man nicht zurücklegen, wenn man sitzt, hat sich Toni Ming Geiger wohl gedacht und dieses Konzert deshalb als Wandelkonzert angelegt, bei dem man durch so gut wie alle Räume des kleinen, aber feinen Heidelberger Völkerkundemuseums geht. Es beginnt in der chinesischen Steppe.

„Staub und Seide“ heißt die aktuelle Ausstellung, die sich mit der historischen und der modernen Seidenstraße beschäftigt. Und inmitten der Objekte, Fotografien und Dokumentationsmaterialien über die Länder entlang der uralten Handelsroute rezitiert Toni Ming Geiger ein Gedicht auf Chinesisch und Deutsch. Dazu gibt es an unterschiedlichen Ecken im Raum Cello-Musik, Percussion, Flöte und Stimm-Improvisation. 

Robert Schumann gepaart mit Franghiz Ali-Zadeh

Die Musik an diesem Nachmittag ist ein Wechsel zwischen Vertrautem und Unvertrautem, Heimat und Fremde. Und dabei sind die Übergänge oft fließend. Beispielsweise von Robert Schumanns „Kennst du das Land“ zu dem Stück „Drei Aquarelle für Sopran, Flöte und präpariertes Klavier“ der aserbeidschanischen Komponistin Franghiz Ali-Zadeh.

Zentral beim diesjährigen Liedfestival: Robert Schumann

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Von den Zuschauerinnen und Zuschauern wird Beweglichkeit verlangt. Dafür werden sie in so gut wie jede Ecke des wunderschönen Barock-Palais geführt, in dem das Museum untergebracht ist. Vom Ausstellungsraum geht es in einen Gartensaal, dann zur Wiese unter schattige alte Bäume mit Blick auf den Neckar. Und schließlich in einen anderen Ausstellungsraum und einen Hof. 

Nachwuchsförderung beim Heidelberger Frühling

Es gibt Schubert-Lieder mit der Cellistin Anne Keckeis und Toni Ming Geiger am E-Piano; die Komposition „Youth“ von Emil Kuyumcuyan, der sie auch selbst spielt und der der Perkussionist des Konzerts ist.

Oder Stücke mit unterschiedlichen Flöten etwa aus Japan, mit Gregor Schulenburg und unter anderem chinesischen Gesang mit der Sopranistin Katrina Paula Felsberga, die Teil des Liedakademie-Nachwuchs des Heidelberger Frühling ist. 

„Youth for marimba“ von Emil Kuyumcuyan auf YouTube

Ungewohnte Atmosphäre

Während am Anfang des Konzerts noch eine gewohnt ernsthafte Konzertatmosphäre herrscht, wird das Ganze mit der Zeit immer lockerer. Schließlich ist man unterwegs.

Manchmal verlieren sich die Klänge etwas, vor allem in den Außenbereichen; manchmal wird es dem ein oder der anderem etwas unbequem, weil man eine Weile stehen muss.

Keine Angst vor kultureller Aneignung

Spätestens wenn im sogenannten Asmat Haus das Stück „Silk Road“ des zeitgenössischen chinesischen Komponisten Tan Dun gespielt wird, kommt auch Humor ins Spiel. Nämlich in dem Moment, in dem sich zwei der Musiker in Vitrinen setzen, sich selbst zum Ausstellungsobjekt machen und offenbar erfundene Rituale durchführen, unter anderem mit Räucherwerk.

Angst vor kultureller Aneignung scheint das fünfköpfige Ensemble mit unterschiedlichen Wurzeln nicht zu haben. Dafür aber Freude und Lust an neuen Klängen und Entdeckung. Am Ende steht die Musik, die Kulturen weltweit miteinander verbindet, nämlich das Volkslied. 

Begeistertes Publikum

„Zehntausend Kilometer Lied“ ist ein Wandelkonzert, das Freude macht und das musikalische Repertoire erweitert. Und einen kleinen Augenblick sorgt es dafür, dass nicht die kulturellen Differenzen zwischen Ost und West und politischen Schwierigkeiten im Mittelpunkt stehen, sondern die Neugierde.

Am Ende singen sogar alle miteinander ein kalmükisches, also südrussisches Lied und es gibt viel Applaus von einem begeisterten Publikum. 

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Martina Senghas
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Sebastian Kiefl