Album-Tipp

Glasklar, triumphierend oder koboldhaft: Goldberg Variationen mit Víkingur Ólafsson

Stand
AUTOR/IN
Susanne Stähr
Susanne Stähr
KÜNSTLER/IN
Vikingur Olafsson
ONLINEFASSUNG
Sebastian Kiefl

Johann Sebastian Bachs “Goldberg-Variationen”: Weit über hundert Mal sind sie schon eingespielt worden. Und das ist auch kein Wunder. Dieser Koloss von rund 80 Minuten Spieldauer ist nicht nur technisch eines der anspruchsvollsten Tastenwerke des Komponisten – er ist auch interpretatorisch ein Klangkosmos, der unerschöpflich scheint. Dieser Album-Tipp ist eine Einspielung der „Aria mit 30 Veränderungen“, wie das Werk eigentlich heißt, von Víkingur Ólafsson.

Audio herunterladen (11,2 MB | MP3)

Aria aus dem Jenseits

Wie eine ferne Erinnerung klingt die Aria aus Bachs „Goldberg-Variationen“, wenn Víkingur Ólafsson sie spielt. Sein glasklarer Anschlag öffnet Räume und Zeiten, lässt das Licht indirekt auf die Szene leuchten. Als käme es aus dem Jenseits.

Bei der ersten Variation klingt jeder Ton kernig und direkter als bei der Aria. Die Transparenz aber bleibt – keine Note geht verloren.

Víkingur Ólafsson gestaltet diese erste Variation nie schematisch. Die Veränderung ist selbst ständig in Veränderung begriffen. Immer hebt er neue Stimmen und Gegenstimmen, Motive und Varianten hervor.

Man hat das Gefühl, er könnte noch 100 weitere Varianten hervorzaubern. 

Variation als Miniaturdrama

Bach selbst hat fast keine Vorgaben zur Ausführung gemacht. Weshalb die Interpretation hier so entscheidend ist. Víkingur Ólafsson erhebt sie zur Kunst.

Aber Víkingur belässt es nicht bei Anmut und Eleganz allein. Er formt z. B. die siebte Variation zu einem Miniaturdrama aus, zu einer imaginären Handlung. Die Stimmen sprechen miteinander, und er gewichtet sie durch subtile Verschiebungen in der Dynamik.

Bachsche Gassenhauer

Jede Variation erhält bei Víkingur Ólafsson ihren eigenen Charakter. Die 20. klingt koboldhaft – da spuken die Gespenster herum. Víkingur setzt die Akzente ungebärdig und wild, er wirbelt das Gefüge durcheinander, bis man fast die Orientierung verliert und die Zeit aus den Fugen gerät. 

Das ist ein Bach mit subversiver Note, mit Störfaktor, ungezogen und frech. Aber – das dicke Ende kommt noch: nämlich mit dem Quodlibet, der Variation 30 und ihren Gassenhauern.

„Ich bin so lang nicht bei dir gewest“ und „Kraut und Rüben haben mich vertrieben“: Diese beiden barocken Schlager hat Bach in die letzte Variation eingebaut. Aber Víkingur Ólafsson stimmt keinen burlesken Rausschmeißer an, sondern eher einen Triumphgesang. 

SWR2 Zur Person Der Pianist Víkingur Ólafsson

Licht spielt auf Island eine große Rolle, das spiegelt sich auch im Spiel des isländischen Pianisten Víkingur Ólafsson. Er scheint es in allen Nuancen einzufangen. Ólafssons Alben spannen Rameau und Debussy ebenso zusammen wie isländische und ungarische Folklore, sie denken Bach neu und lassen Philip Glass irisieren.

SWR2 Zur Person SWR2

Stand
AUTOR/IN
Susanne Stähr
Susanne Stähr
KÜNSTLER/IN
Vikingur Olafsson
ONLINEFASSUNG
Sebastian Kiefl