Musikthema

Die Musikszene in Estland im Schatten des Russlandkriegs

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AUTOR/IN
Mathias Nöther

Die Esten haben Erfahrung damit, sich ihre Unabhängigkeit von Russland zu erarbeiten und zu bewahren. Musik hat dabei in der Vergangenheit eine wichtige Rolle gespielt. Dafür steht bis heute die sogenannte Singende Revolution, mit der sich das kleine baltische Land in den späten 1980-Jahren von der Sowjetunion löste. Hinterlässt der russische Krieg in der Ukraine, der für die Esten so nah ist, in diesem Musikleben Spuren?

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Ukrainische Lieder am Ort der Singenden Revolution

Solidarität auf estnisch: In der riesigen Chormuschel in Tallinn sangen im vergangenen Jahr mehrere tausend Menschen mehrstimmig ukrainische Volkslieder – unter Leitung des landesweit bekannten Chordirigenten Hirvo Surva.

Sängerinnen und Sänger an der Chormuschel in Tallinn (Foto: IMAGO, IMAGO / Scanpix)
Unter dem Titel „Püha on maa“ („Gesegnet sei das Land“) dtand das 13. Jugendgesangsfestival an der Chormuschel Tallinn. 778 Gruppen, 23.139 Sänger*innen und 657 Dirigent*innen nahmen teil.

Die Chormuschel war der gleiche Ort, an dem vor über dreißig Jahren in Estland die legendäre Singende Revolution stattfand. Hier sang die estnische Bevölkerung ihre eigenen Volkslieder, die in der Sowjetunion verboten waren. Doch die Esten kannten damals ihre Lieder noch. Hirvo Surva nennt den Grund dafür.

„In der Sowjetzeit, da haben wir unsere Gesangstradition in den Familien bewahrt“, erklärt Surva. „Ich erinnere mich sehr gut, wie meine Großmutter für mich sang, wie wir zu Weihnachten in die Kirche gingen und die Weihnachtslieder hörten und so weiter.“

Normalerweise hat jede Generation ihre eigene Musik. Aber in Estland kommen alle Generationen zusammen und singen die gleichen Lieder.

Einer allein bewegt nicht viel

Der musikalische Widerstand gegen die sowjetische Obrigkeit hat sich damals vor allem im Privaten vorbereitet. Die zivilgesellschaftliche Solidarität mit der Ukraine trägt in der Musikszene Estlands nun eine ähnlich private Handschrift.

Das beobachtet der Komponist Jüüri Reinvere. In seinen Augen ist gerade das musikalische Engagement in Estland so etwas wie eine politische Graswurzelbewegung. Im Einzelnen unauffällig, aber wirksam.

„Alle haben so eine Skepsis, was die große Politik schaffen kann“, meint Reinvere. „Deshalb: Was die Leute persönlich machen, auch wenn es kleine, winzige Sachen sind – also ein Chorlied innerhalb des Chorkonzerts oder ein Orgelsolo irgendwo: Das ist das, was sie machen. Allerdings machen sie das sehr viel. Und dieses „Sehr viel“ macht auch sehr viel aus.“

Estland verweigert Russen die Einreise

Die große Politik in Estland nutzt andere Hebel. Estland ist eines von ganz wenigen Ländern Europas, das russischen Staatsbürgern seit dem Angriff auf die Ukraine die Einreise komplett verweigert. Das hat nicht nur positive Auswirkungen – zum Beispiel ausgerechnet auf die Chorszene.

2025 findet wieder das berühmte internationale Chorfestival in Tallinn zum achtzehnten Mal statt. Dafür musste die Geschäftsführerin des Chorverbands Kaie Tanner ein wenig umplanen: „Eigentlich hatten wir vorgehabt, den Kinderchor Vesná aus Moskau einzuladen. Er ist einer der besten Kinder- und Jugendchöre der Welt. Aber stattdessen haben wir jetzt den Lettischen Mädchenchor – weil es zur Zeit unmöglich ist, einen russischen Chor nach Estland einzuladen.“

Tanner gibt sich flexibel und will die Auswirkungen des Kriegs auf die estnischen Kultur nicht überbewerten. Ohnehin orientiere man sich seit über drei Jahrzehnten vor allem an Westeuropa, wie auffällig oft betont wird.

Menschenmassen vor der großen Bühne des Ukraine-Konzerts in Tallinn (Foto: IMAGO, IMAGO / Scanpix)
Am Tag der ukrainischen Unabhängigkeit versammelten sich in Tallinn Kulturschaffende und Menschen zum freien Konzert „Ukraina tähab!“ („Ukraine sagt danke“) auf dem Platz der Freiheit in Tallinn. Estnische Künstler*innen wie Stefan, Elina Nechayeva, der nationale Männerchor und Svjata Vatra sangen neben der ukrainischen Eurovision-Gewinnerin Ruslana.

Bewusstsein für politische Zeichen in der Musik

Doch auch die persönlichen und kulturellen Beziehungen zu Russland sind in Estland weiterhin stark, sagt der Komponist Jüüri Reinvere, der auch als politischer Journalist arbeitet. Er bemerke eigentlich keine bedeutende Russophie.

„Natürlich gibt es auch, dass die Leute jetzt weniger russische Musik spielen. Dass die Werke, die sehr deutlich groß-russisch sind, dass die jetzt weniger vorkommen“, erklärt Reinvere. „Ich kann mir zum Beispiel sehr schlecht vorstellen, dass irgendjemand im Baltikum jetzt freiwillig ‚Alexander Newski‘ von Prokofiew spielen würde.“

Tatsächlich ist man sich in Estland sehr bewusst, dass Musik politisch starke Zeichen setzen kann. Und wenn man sie auf der ganz großen Bühne setzt, haben sie auch eine starke Wirkung nach außen – wie sie der deutsche Star-Geiger Christian Tetzlaff vor wenigen Wochen erlebt hat, als er in Tallinn mit dem Nationalen Sinfonieorchester Estlands auftrat.

Jedes Konzert beginnt mit der ukrainischen Nationalhymne

„Als ich gehört habe, dass das estnische Orchester jedes seiner Konzerte mit der ukrainischen Nationalhymne beginnt, da war ich so gerührt“, erinnert sich der Geiger. „Und ich war gleichzeitig entsetzt, wenn ich das sehe: dieses kleine Land, direkt in der Nähe von Russland und Belarussland. Ich weiß auch von Paavo Järvi, mit dem ich darüber gesprochen habe: Diese direkte Bedrohung empfinden die nicht seit dem Ukraine-Krieg, sondern viele viele viele Jahre vorher.“

Ende vergangenen Jahres versah das Nationale Sinfonieorchester Estlands dann Shakespeares „Macbeth“ mit einer Begleitmusik. „Macbeth“ ist vielleicht derjenige Theaterklassiker, der am deutlichsten einen Zusammenhang zeigt zwischen der Machtgier eines Diktators und seiner Neigung zu kriegerischer Aggression nach außen.

Die Begleitmusik basiert auf Sinfonien des estnischen Komponisten Lepo Sumera. Damit begibt sich das Orchester eindeutig aus seiner künstlerischen Komfortzone – eine Komfortzone, in der Estland als ganzes schon längst nicht mehr liegt.

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