Ein „graues Meer“ aus treuen Abonnenten
Stirbt das Klassik-Publikum langsam aus – und mit ihm der Musikbetrieb mit seinen Musiktheatern und Orchestern? „Wir haben es tatsächlich gerade mit einer Transformation zu tun, die so tiefgreifend ist, wie sie das im Kulturbetrieb noch nie war“, sagt der Musikjournalist Axel Brüggemann in SWR2. Er beschreibt den Wandel in seinem neu erschienenen Buch „Die Zwei-Klassik-Gesellschaft“.
Auf einen Sechzehnjährigen im Publikum kommen demnach mittlerweile drei Besucher jenseits der 60. Das „graue Meer“ heiße das bei den Intendanten der Häuser, sagt Brüggemann; treue Abonnenten und Abonnentinnen, für die es noch selbstverständlich sei, ins Theater und ins Konzert zu gehen. Zwar hätten auch frühere Generationen klassische Musik oft erst spät entdeckt, doch der Umbruch sei nun größer.
Konträre Erwartungen einer „sterbenden“ und einer „letzten“ Generation
Fast an der Hälfte der Grundschulen werde mittlerweile kein Musikunterricht mehr erteilt. „Da können wir nicht erwarten, dass plötzlich die Älteren dieser Generation kommen und sagen: ,Wir wollen unsere Musikkultur retten‘.“
In seinem Buch hält Axel Brüggemann deshalb die Erwartungen einer „sterbenden“ gegen die der „letzten“ Generation. Diese habe in der Tradition von Kunst-Avangardisten wie Christoph Schlingensief das Theater längst in den öffentlichen Raum verlegt. Moderne Aktivisten hätten gar nicht das Gefühl, das Theater noch zu brauchen.
Brüggemann: „Theatrale“ Aktionen finden inzwischen auf der Straße statt
Der Musikjournalist spart deshalb nicht mit Kritik am Inszenierungsbetrieb der Bühnen. „Theatrale“ Aktionen wie die der Klimakleber fänden inzwischen auf der Straße statt. Die Theater wirkten demgegenüber oft blass, wie „schöngeistige Musentempel, in denen oft eine schöne Tapete für schwierige Zeiten tapeziert wird.“
Über alldem schwebt die Frage nach der Relevanz. Sie wirkt umso drängender, als die Sanierung von Theatern und Opern hohe Kosten auslösen wird. In Stuttgart und Köln werden Milliardensummen für die Sanierung der großen Häuser veranschlagt.
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Warum sollte die Jungen einen solchen Kulturbetrieb subventionieren?
Warum sollten jüngere Generationen den Kulturbetrieb weiterhin mit derart hohen Summen subventionieren? Auf diese Frage gibt es böse Antworten, und Brüggemann nennt sie: „Ein System, wo – ich sage ganz bewusst – Intendanten sich oft benehmen, wie es kein Vorstandsvorsitzender in einer deutschen Bank tun würde, wo wir mit Me-too-Übergriffen zu tun haben, wo wir in Kulturunternehmen kaum noch eine Unternehmenskultur haben.“
Brüggemann ist überzeugt: Wenn es so weitergeht, fährt das Kultursystem gegen die Wand. „Wofür leisten wir uns das?“, fragt der Musikjournalist. Darüber zu streiten, dafür sei der Raum der Kultur da. Sein Buch bietet dafür eine gute Grundlage.