Klimaprotest der Letzten Generation in Leipzig (Foto: picture-alliance / Reportdienste, picture alliance / SZ Photo / Leonhard Simon)

Neues Buch von Axel Brüggemann

Auf einen 16-Jährigen kommen drei Besucher Ü60: Klassik-Kultur ohne Zukunft?

Stand
AUTOR/IN
Wilm Hüffer
Wilm Hüffer, SWR2 Moderator und Redakteur (Foto: SWR, Oliver Reuther)

Wer geht künftig noch ins Theater, in die Oper, ins klassische Konzert? Für die ältere Generation „scheint sich kein Erbe zu finden“, schreibt der Musikjournalist Axel Brüggemann.

Ein „graues Meer“ aus treuen Abonnenten

Stirbt das Klassik-Publikum langsam aus – und mit ihm der Musikbetrieb mit seinen Musiktheatern und Orchestern? „Wir haben es tatsächlich gerade mit einer Transformation zu tun, die so tiefgreifend ist, wie sie das im Kulturbetrieb noch nie war“, sagt der Musikjournalist Axel Brüggemann in SWR2. Er beschreibt den Wandel in seinem neu erschienenen Buch „Die Zwei-Klassik-Gesellschaft“.

Auf einen Sechzehnjährigen im Publikum kommen demnach mittlerweile drei Besucher jenseits der 60. Das „graue Meer“ heiße das bei den Intendanten der Häuser, sagt Brüggemann; treue Abonnenten und Abonnentinnen, für die es noch selbstverständlich sei, ins Theater und ins Konzert zu gehen. Zwar hätten auch frühere Generationen klassische Musik oft erst spät entdeckt, doch der Umbruch sei nun größer.

Audio herunterladen (8,6 MB | MP3)

Konträre Erwartungen einer „sterbenden“ und einer „letzten“ Generation

Fast an der Hälfte der Grundschulen werde mittlerweile kein Musikunterricht mehr erteilt. „Da können wir nicht erwarten, dass plötzlich die Älteren dieser Generation kommen und sagen: ,Wir wollen unsere Musikkultur retten‘.“

In seinem Buch hält Axel Brüggemann deshalb die Erwartungen einer „sterbenden“ gegen die der „letzten“ Generation. Diese habe in der Tradition von Kunst-Avangardisten wie Christoph Schlingensief das Theater längst in den öffentlichen Raum verlegt. Moderne Aktivisten hätten gar nicht das Gefühl, das Theater noch zu brauchen.

Klimaprotest der Letzten Generation in Leipzig (Foto: IMAGO, IMAGO / Christian Grube)
Theatralisches im öffentlichen Raum: Im Vergleich zu den Klima-Protestaktionen der „Letzten Generation“ wirkt das Theater teilweise blass, meint Axel Brüggemann.

Brüggemann: „Theatrale“ Aktionen finden inzwischen auf der Straße statt

Der Musikjournalist spart deshalb nicht mit Kritik am Inszenierungsbetrieb der Bühnen. „Theatrale“ Aktionen wie die der Klimakleber fänden inzwischen auf der Straße statt. Die Theater wirkten demgegenüber oft blass, wie „schöngeistige Musentempel, in denen oft eine schöne Tapete für schwierige Zeiten tapeziert wird.“

Über alldem schwebt die Frage nach der Relevanz. Sie wirkt umso drängender, als die Sanierung von Theatern und Opern hohe Kosten auslösen wird. In Stuttgart und Köln werden Milliardensummen für die Sanierung der großen Häuser veranschlagt.

Stuttgart

Zwischennutzung während der Sanierung Oper Stuttgart: Entwurf für Ausweichspielstätte vorgestellt

Wie soll das Interimsgebäude an den Wagenhallen für die Oper in Stuttgart aussehen? Das haben Stadt, Land und die Württembergischen Staatstheater am Dienstag bekanntgegeben.

SWR2 Kultur aktuell SWR2

Warum sollte die Jungen einen solchen Kulturbetrieb subventionieren?

Warum sollten jüngere Generationen den Kulturbetrieb weiterhin mit derart hohen Summen subventionieren? Auf diese Frage gibt es böse Antworten, und Brüggemann nennt sie: „Ein System, wo – ich sage ganz bewusst – Intendanten sich oft benehmen, wie es kein Vorstandsvorsitzender in einer deutschen Bank tun würde, wo wir mit Me-too-Übergriffen zu tun haben, wo wir in Kulturunternehmen kaum noch eine Unternehmenskultur haben.“

Brüggemann ist überzeugt: Wenn es so weitergeht, fährt das Kultursystem gegen die Wand. „Wofür leisten wir uns das?“, fragt der Musikjournalist. Darüber zu streiten, dafür sei der Raum der Kultur da. Sein Buch bietet dafür eine gute Grundlage.

Neue Ideen fürs Klassik-Publikum

Oper als Pilgerreise durch Stuttgart Natur statt Kunsttempel: Ingo Gerlach über Messiaens „Saint François d’Assise“ in Stuttgart

Die Staatsoper Stuttgart zeigt Olivier Messiaens Opern-Oratorium in einer spannenden Neuinszenierung: Neben dem Opernhaus als Aufführungsort begibt sich das Publikum auf eine Pilgerreise durch die Natur und erlebt Teile der Oper mit Kopfhörern oder auch Open-Air. Ingo Gerlach begleitet die Produktion als Dramaturg. Mit SWR2 spricht er über das einzigartige Projekt.

SWR2 Treffpunkt Klassik SWR2

„Im Bachzustand“ in Ladenburg Ausbrechen und abschalten: Bach im Liegestuhl

Liegestuhl statt Kirchenbank: Cellistin Katja Zakotnik verfrachtet ihr Publikum im Projektkonzert „Im Bachzustand“ in bequeme Sitz- und Liegemöbel. Die Hintergründe im Gespräch.

SWR2 Treffpunkt Klassik SWR2

Mehr von Axel Brüggemann

Brüggemanns Klassikkommentar Die Klassikkrise ist eine Bildungskrise

Eine Studie von der Bertelsmann-Stiftung fand bereits vor der Pandemie heraus, dass an deutschen Grundschulen über die Hälfte des Musikunterrichtes ausfällt. Ein Zustand, der sich nicht allzu schnell verbessern wird, denn es fehle an Nachwuchs. Das hat mehrere Gründe, kommentiert Axel Brüggemann.

SWR2 Treffpunkt Klassik SWR2

Klassikkommentar Axel Brüggemann über das Phänomen „Artist in Residence“

Was genau versprechen sich Orchester und Konzerthäuser von dem Konzept Artist in Residence? Konzerterfolge brauchen auch Risiko, meint Axel Brüggemann in seinem Klassikkommentar.

SWR2 Treffpunkt Klassik SWR2