Palazetto Bru Zane veröffentlicht Félicien Davids Oper Herculanum als CD-Buch

Eine Entdeckung

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AUTOR/IN
Reinhard Ermen

Buchkritik vom 4.11.2015

Das Centre de Musique romantique francais hat sich zur Aufgabe gemacht, Ansichten der Musikgeschichte zu korrigieren. Die generöse Stiftung residiert in dem Palazetto, das Marino Zane sich 1695 in Venedig errichten ließ. Hier werden Noten gesammelt und ediert, Kurse abgehalten. Es finden Konzerte statt. Auch andernorts unterstützt die Stiftung Aufführungen und Ausgrabungen. Viele davon erscheinen als CDs und werden mit liebevoll gestalteten Begleitbüchern, die mehr sind als ein gewöhnliches Booklet, an das interessierte Publikum weitergereicht. Eine besonders schön gestaltete Reihe widmet sich der französischen Oper. Zehn Bände sind davon mittlerweile erschienen – der neueste ist der Oper „Herculanum“ von Felicien David gewidmet.

Das 19. Jahrhundert war länger als man denkt, jedenfalls wird es vom Centre de Musique Romantique Francais sehr weitherzig interpretiert. Die inzwischen vorliegenden zehn Bände zur französischen Oper decken einen Zeitraum ab, der mit „Thésée“ von Francois-Joseph Gossec beginnt und (vorerst) mit „Thérèse“ von Jules Massenet endet. Das eine Werk ist eine „Tragedie lyrique“ und wurde 1782 an der Académie Royale de Musique in Paris erstmals gegeben, das andere ist fast eine veristische Oper und wurde 1907 in Monte Carlo uraufgeführt. Zwischen diesen Wendemarken liegen lauter seltene Stücke, darunter einige echte Raritäten – etwa von Antonio Sacchini, Charles-Simon Catel oder Victorin Joncières. Die aktuelle Dokumentation ist ebenfalls eine Entdeckung; denn wer kennt schon die große Oper in vier Akten „Herculanum“ von Félicien David?!

Für viele dürfte dieser Komponist eine Art Karteileiche der Musikgeschichte sein. Wer sich umhört, erfährt von einem Musiker, der so etwas wie den musikalischen Orientalismus in Frankreich begründete. Schließlich hat er zwei Jahre in Ägypten zugebracht, als Hauskomponist und Missionar der Saint-Simonisten, die nach ihrer Vertreibung aus Frankreich versuchten, ihre sozialistisch-utopischen Ideale im Orient zu verbreiten. Die Sinfonische Ode „Le desert“ war 1844 das erfolgreichste Ergebnis dieser Luftveränderung. Die aktuelle Veröffentlichung von Palazetto Bru Zane holt den Musikdramatiker zurück ins allgemeine Bewusstsein. Immerhin gehen sechs Opern auf sein Konto. Unter denen dürfte „Herculanum“ die gewichtigste sein. Uraufgeführt wurde sie 1859 in der Pariser Operá, als eine der aufwendigsten Produktionen ihrer Zeit.

Der Band ist eine Nachhilfestunde in Sachen Félicien David. Im Grunde genommen will das Büchlein Programmheft zu einem vergessenen Hauptwerk der Gattung „Große (französische) Oper“ sein; nicht für Wissenschaftler, sondern für neugierige Opernfreunde. Die Zusammenstellung erscheint gelegentlich etwas zufällig. Beim vergleichenden Blick in die anderen Bände, fällt auf, dass es anscheinend keine einheitlichen Direktiven für die Erschließung der jeweiligen Materialien gibt. Im aktuellen Band über „Herculanum“ vermisst man auch so etwa ein kurzes biographisches Stichwort zum Komponisten. Die Tatsache, dass David von 1810 bis 1876 gelebt hat, ist im ganzen Buch nicht zu finden. Oder ich habe irgendwo eine informative Klammer übersehen. Wie dem auch sei, das Büchlein macht neugierig auf diesen Komponisten. Die sechs Essays, bzw. Zeitdokumente, die sachliche Inhaltsangabe und das vollständige Libretto, alles in Französisch und Englisch, helfen da schon ganz entschieden. Dabei schießt das Büchlein gelegentlich über sein Ziel hinaus. Der einführende Text von Ralph P. Locke krankt ein wenig daran, dass er aus David eine Hauptfigur der französischen Musikgeschichte machen will. Immerhin gelingt es Gunther Braam mit Hilfe einer kleinen Statistik, die manchmal überlieferte Fama vom Misserfolg der Oper zu relativieren. In einer Erfolgsbilanz, die von Meyerbeers „Hugonotten“ angeführt wird, liegt „Herculanum“ im unteren Mittelfeld zwischen „Don Juan“ von Mozart und „Hamlet“ von Thomas gar nicht so schlecht. Die Uraufführungskritik von Hector Berlioz ist ein interessanter Quellentext, also eine sorgfältige, durchaus distanzierende Besprechung, aber auch mit viel Lob für die seinerzeit spektakuläre Novität.

Das Buch bestimmt das Format der Publikation trotz der beigelegten zwei CDs mit der vollständigen Oper. Die kommt daher in einer bemerkenswerten Aufnahme mit dem flämischen Radiochor und der Philharmonie Brüssel unter Hervé Niquet. Die Solisten sind erstklassig. Das ist eben mehr als eine akustische Zugabe. Vor allen Dingen kann sich jeder Leser dadurch ein eigenes Bild machen. Ich selbst würde sagen, dass David ein souveräner Orchesterhandwerker war, der im Zweifelsfalle einer Clarté den Vorzug vor schummrigen Romantizismen gibt. Einflüsse von Gluck bis Berlioz sind hörbar, aber zeittypisch mit einem persönlichen Zug. Davids innige Melodik erscheint manchmal wie gemacht fürs Singspiel. Der Transport auf die Bühne der Großen Oper bekommt diesen zarten Gebilden nicht immer. Das Libretto von Joseph Méry und Térence Hadot ist von bedenklicher Qualität, stellt aber dem Zauber des Theaters alle notwendigen Situationen bereit. Doch dieses Für und Wider teilt „Herculanum“ mit vielen benachbarten Meisterwerken.

Die christlichen Geschwister Lilia und Hélios gehen nach einigen schönen, wirkmächtigen Krisen und Irrtümern den Weg der aufrichtigen Schmerzen. Den spektakulären Rundhorizont zum Drama bildet eben diese Stadt. Die römische Provinzmetropole versank bekanntlich im Jahr 79 im Ascheregen des Vesuvs. Im Verlauf der Handlung bebt immer mal wieder die Erde, doch der vernichtende finale Vulkanausbruch dauert in dieser Großen Oper insgesamt 90 Sekunden. Fast alle Hauptfiguren kommen noch einmal kurz zu Wort. Wenn sich der Rauch verzogen hat, sieht man die Stadt in Trümmern. So steht es (sinngemäß) in der abschließenden Regiebemerkung.

Buchkritik vom 4.11.2015 aus der Sendung „SWR2 Cluster“

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Reinhard Ermen