Album-Tipp

„Beyond“ von Jakub Orliński – rauschhafte Farben und tausend Facetten

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Christine Lemke-Matwey
Christine Lemke-Matwey

Gefragt, wie er Countertenor geworden sei, hat Jakub Orliński kürzlich eine ziemlich lustige Antwort gegeben. Als Jugendlicher sei er beim Trampolinspringen einmal blöd gefallen – und da habe er sich gedacht: Na, dann werde ich eben Countertenor! Jetzt hat der sportliche Sänger eine neue CD mit dem Ensemble „Il pomo d'oro“ herausgebracht: „Beyond“. SWR2-Kritikerin Christine Lemke-Matwey erfreut sich an Energie und Drive und vergibt die Höchstpunktzahl.

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„Voglio Di Vita Uscir“ (Ich möchte das Leben verlassen), eine Kanzone von Claudio Monteverdi, Jakub Orlínsky und das Ensemble Il pomo d’oro. Dass diese Musik alles andere als lebensmüde klingt, eher munter, fröhlich, tänzerisch, ist nur die halbe Wahrheit.

Die Kanzone, eine Chaconne, hat auch einen langsamen Teil. Tränen, Gräber, Sterbenmüssen: Hier stehen wir an der Schwelle des Jenseits, das Jakub Orlinsky mit seiner neuen CD beschwört. „Jenseits“ meint er allerdings nicht nur im metaphysischen Sinn, sondern auch im musikalischen.

Das Repertoire ist das kapriziöse Seicento, das 17. Jahrhundert, Monteverdi, Frescobaldi, Kapsberger, Saracini und andere, vieles davon hier als Weltpremiere. Sogar eine Frau ist dabei, Barbara Strozzi. Musik, die permanent die Kostüme wechselt, die Tempi, Stile und Sprachen – und ihrer Zeit oft voraus ist. Auch wenn’s mal simpel klingt. 

„Amarilli, mia bella“ von Giulio Caccini, ein Schlager des Seicento, wie gemacht für Orlinskys sonores, sinnliches Counter-Timbre. Der 32-jährige Warschauer kann eigentlich alles, lyrische Versenkung, dramatische Attacke und Koloraturen, natürlich – und das Tolle ist, es ist nie glatt bei ihm, als hätte er gerade an den musikalischen Widerständen seine hellste Freude. Und Freude hat er immer!

Forscherlust und Breakdance

Zu jeder Sängerkarriere gehört ein Marketing. Bei Jakub Orlínsky setzt sich das aus Forscherlust und Breakdance zusammen. Einerseits sitzt er in Archiven, sucht nach Ungesungenem, lange nicht mehr Gesungenem – und andererseits dreht er auf dem Asphalt athletische Pirouetten, wobei ich nicht weiß, in welchem Stil, B-Boying, Locking, Popping oder Electric Boogie. Körperarbeit ist auf jeden Fall beides, das Tanzen und das Singen.

Eine Liebeskrieg-Arie des Opernkomponisten Giuseppe Antonio Bernabei, zwei Männer kämpfen um eine Frau, und der eine, Eugerio, ist zu allem bereit. Dank der Blechbläser klingt sie aber auch festlich, diese Arie. Weil die Liebe ein Fest ist und Jakub Orlínskys neue CD in ihren rauschhaften Farben und 1000 Facetten auch. Zum Lesen des Booklets (weiße Schrift auf schwarzem Grund) braucht man viel Licht, aber das ist jetzt wirklich nur leise gemeckert. 5 Sterne!

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