Musikthema

100 Jahre Musikwissenschaftliches Institut in Tübingen

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AUTOR/IN
Valentin Stötzer
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Dominic Konrad

Seit hundert Jahren gibt es das Musikwissenschaftliche Institut der Universität Tübingen. Bei der Jubiläumsfeier im geschichtsträchtigen „Pfleghof“ kamen Studierende, Dozierende und Mitarbeitende mit Ehemaligen und Freunden des Instituts ins Gespräch. Was bedeutet Musikwissenschaft in Tübingen heute und was steht dem Institut in den kommenden Jahre bevor?

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Historisch informiert musiziert das Jubiläumsfest

Im Gegensatz zur angelsächsischen Tradition wird im Studium der Musikwissenschaft in Deutschland eigentlich nicht musiziert. Die Dozenten Stefan Morent, Matthew Gardner und Niels Pfeffer sind allerdings selbst auch Musiker und haben in einem Seminar mit den Studierenden die historische Aufführungspraxis am Instrument erprobt.

Beim Jubiläumsfest der Tübinger Musikwissenschaft steht Georg Philipp Telemanns Triosonate in d-Moll auf dem Programm. Matthew Gardner am Cembalo und Niels Pfeffer an der Theorbe, einem Lauteninstrument, bilden die Basso-Continuo-Gruppe, während die Studentin Cornelia Schneider auf der Barockgeige spielt. Im letzten Satz spielt Anne Heller ein Blockflöten-Solo, sie studiert ebenfalls Musikwissenschaft.

Sie habe schon viel Barock gespielt, sagt die Barockflötistin, auch solistisch. Dabei habe sie aber immer Verzierungen eingearbeitet, die vielleicht nicht das sind, was zur Entstehungszeit gemacht wurde. „Das war jetzt interessant, endlich mal anzuschauen: Wie wurde es eigentlich wirklich gemacht? Was ist eigentlich echt authentisch und was macht man halt, weil es authentisch klingt“, sagt Anne Heller.

Musik in historischen Mauern: das Musikwissenschaftliche Institut im Pfleghof (Foto: IMAGO, Ullrich Gnoth)
Das Musikwissenschaftliche Institut ist im spätgotischen Pfleghof in der historischen Altstadt Tübingens untergebracht.

Was bedeutet das Musikwissenschaftliche Institut für unsere Zeit?

Eine Gastrede gab es zur Jubiläumsfeier nicht. Die Veranstalter haben sich für Wortbeiträge von Studierenden, Lehrenden, Mitarbeitenden, Ehemaligen und aus dem Freundeskreis des Instituts entschieden. Sie sprechen darüber, was das Institut für sie persönlich ist und, was es für die heutige Zeit bedeutet.

Einer der Studierenden, die zu Wort kommen, ist der 72-jährige Burkhard Braach, der im Bachelorstudium eingeschrieben ist und für den die Institutsbibliothek sein zweites Wohnzimmer bedeutet: „Das Alter spielt keine Rolle. Manche sagen, da wirst du jung. Das ist Quatsch, aber ich fühle mich bei denen alterslos.“

Braach hat zur Institutsgründung recherchiert und darüber einen Text verfasst, der auf einer Stellwand im Foyer zu lesen ist. In seinem kurzen Redebeitrag bezieht er sich auf die Anfänge des Instituts in der Zeit vor dem Nationalsozialismus.

Vor hundert Jahren, erklärt Braach, habe der Gründer und erste Direktor des Instituts, Karl Hasse, einen wichtigen Auftrag in der „Aufrechterhaltung der Bedeutung Deutschlands in der Musik der Welt“ gesehen. Heute gehe es um das Verstehen der Musik der Welt: „Und darum sehe ich einen wichtigen Beitrag des Instituts zur Aufrechterhaltung unserer kulturellen Vielfalt.“

Franz-Schubert-Denkmal, Wiener Stadtpark (Foto: IMAGO, imagebroker/siepmann)
Die umfassende Neuausgabe seiner Werke soll zum Jubiläumsjahr 2028 fertig sein.

Schon 59 Jahre in der Mache: die „Neue Schubert-Ausgabe“

Das größte Projekt am Institut besteht seit 59 Jahren: Hier wird die „Neue Schubert-Ausgabe“ herausgegeben, ein großes Projekt mit engen Verbindungen nach Wien, wo die Originalquellen von Franz Schubert liegen. Matthew Gardner leitet das Projekt für die Uni Tübingen.

„Die neue Ausgabe versucht wirklich, alle Quellen zu berücksichtigen, die es aus Schuberts eigener Hand gibt: Kopien aus der Zeit, aber vor allem auch alle Fassungen, wenn es zum Beispiel mehrere Fassungen von einem Stück gibt.“

Das gelte auch für das berühmte Lied „Erlkönig“, von dem die Ausgabe alle bekannten Fassungen abbilde, „sodass man zum einen die Entwicklungsprozesse eines Stückes sehen kann, aber die verschiedenen Fassungen auch frei aussuchen kann zum Aufführen.“

Seit 1965 wird an dieser Ausgabe gearbeitet. 2027 soll sie fertig sein, pünktlich für das Schubertjahr 2028, dem zweihundertsten Todestag des Komponisten.

Genderforschung: Seminare mit konstruktiver Diskussion

Kommenden Herbst wird in Tübingen ein Festival stattfinden, das sich ganz der Musik von Komponistinnen widmet. Christina Richter-Ibáñez ist die wissenschaftliche Kooperationspartnerin des Festivals und hat in Vorbereitung darauf am Institut Seminare zur Frauen- und Genderforschung angeboten.

„Das ist ein Bereich, der in Tübingen vorher fast gar nicht in der Musikwissenschaft vertreten war und der die Studierenden sehr zur Diskussion animiert hat“, berichtet Richter-Ibáñez. „Ich würde behaupten, dass die Frauen- und Genderforschungsseminare die besten waren, die ich hier hatte, weil wir die besten Diskussionen geführt haben.“

Die Studentin Marianne Curschmann interessiert sich besonders für das Thema und schreibt bei Thomas Schipperges, dem Geschäftsführenden Direktor des Instituts, gerade ihre Bachelorarbeit über „Les Sirènes“, eine Kantate für Frauenchor der französischen Komponistin Lili Boulanger.

Ein Saal mit Geschichte: Der Tübinger Pfleghofsaal

Im Jubiläumsjahr bietet das Seminar Einblicke in seine Arbeit

Mitglieder des Akademischen Orchesters der Universität nehmen sich bei der Jubiläumsfeier ebenfalls der Musik abseits des oft Gehörten an. In Kammermusik-Besetzung spielen sie den zweiten Satz des Klavierquintetts in g-Moll des britischen Komponisten Samuel Coleridge-Taylor.

Im Jubiläumsjahr 2023 gibt es einige Möglichkeiten, Einblicke in die Tübinger Musikwissenschaft zu bekommen. Zum Beispiel auf der Institut-Website, auf der es Videos und Erklärfilme von Studierenden zu sehen gibt, die im Rahmen von einem Kooperationsseminar gemeinsam mit Studierenden aus der Medienwissenschaft entstanden sind.

Außerdem wird, sobald die Vitrinen restauriert sind, am 9. November die historische Blasinstrumenten-Sammlung des Instituts als Ausstellung neu eröffnet. Hierzu ist die Öffentlichkeit herzlich eingeladen.

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Dominic Konrad