Pop

„Nie wieder Krieg“ von Tocotronic: Passender Soundtrack für Zeiten der Isolation

Stand
KÜNSTLER/IN
Tocotronic
AUTOR/IN
Vanessa Wohlrath

Als „Meister der Isolationslieder“ wird sie bezeichnet, als Band, die schon lange vor der Corona-Pandemie die Songs für die Pandemie geschrieben hat: Tocotronic. Tatsächlich liefert die Gruppe um Sänger und Songschreiber Dirk von Lowtzow einen passenden Soundtrack in Zeiten der Isolation und Vereinzelung. Das zeigt jetzt auch das neue Album, „Nie wieder Krieg“.

Texte mit Tiefgang, die sich leicht einprägen lassen

„Nie wieder Krieg“: Ein Spruch, wie er auf einem Plakat bei Anti-Kriegs-Demos stehen könnte. Heute ziert er das Cover des neuen, 13. Tocotronic-Albums. Der sloganhafte Charakter ist bei der Rockgruppe aus Hamburg und Berlin Programm. Texte, die sich leicht einprägen lassen, ideal auch zum Mitsingen – aber mit Tiefgang. Dazu trägt auch der klare Gesangsvortrag des Tocotronic-Frontmannes Dirk von Lowtzow bei.

Dirk von Lowtzow über das Album:Ich denke, insgesamt ist das Album, glaube ich, viel weniger ein Statement-Album, als man so denken könnte. Ich glaube, es geht viel stärker, als dass da ganz klare Aussagen getroffen werden, um die Beleuchtung, um die Erzählung von Situationen, in denen sich Menschen an Kipppunkten ihrer Existenz oder in ihrer Vulnerabilität befinden.“

„Nie wieder Krieg“ von Tocotronic:

Antifaschismus ist dringender denn je, sagt von Lowtzow

Songs, die einen für die Dauer des Hörvorgangs aus der realen Welt herauskatapultieren, Trost und Hoffnung spenden sollen. Dirk von Lowtzow singt hier passend zur Zeit von Einsamkeit und vom Ausgeliefertsein.

Dirk von Lowtzow (Foto: IMAGO, imago images / opokupix)
„Ich bin eigentlich ein recht optimistischer Mensch und neige nicht so zu Schwarzseherei – außer in unserer Musik natürlich. Aber im Augenblick bin ich doch etwas pessimistisch, wie die Sache so weitergeht.“ sagt von Lowtzow über die Querdenker-Bewegung.

Existenzielle Zustände, die in den vergangenen knapp zwei Jahren viele Menschen erlebt haben und einige von ihnen auch dazu motivierten, sich sogenannten „Spaziergängen“ anzuschließen oder menschenfeindliche Ideologien zu verbreiten.

So erklärt von Lowtzow: „Man könnte sagen, wenn man jetzt sehr kulturkritisch ist, dass da eine Situation herrscht, die man vielleicht als Feindschaft aller gegen aller bezeichnen kann. Oder als vorkriegsartig. Das hat sicherlich auch viel mit den sogenannten Filterblasen, mit den sozialen Medien, mit Ressentiments, die dort geschürt werden, zu tun, aber auch mit einer Bereitschaft, sich sozusagen faschisieren zu lassen.

Und diese Umzüge mit Fackeln und Ähnlichem, die man da gesehen hat, sind schon, insbesondere vor dem Hintergrund unserer entsetzlichen deutschen Geschichte, angsteinflößend wie kaum etwas, was ich jetzt in der letzten Zeit gesehen habe. Und ich glaube, man kann sich dem nur mit einer antifaschistischen Haltung entgegenstellen.“

Die meisten Songs wurden vor der Corona-Krise aufgenommen

Mit dem Song „Jugend ohne Gott gegen Faschismus“ zeigen Tocotronic klare Kante. Es ist ein antifaschistisches Statement und gleichzeitig, so von Lowtzow, eine Liebeserklärung an eine Jugend, die sich nicht vereinnahmen lässt von rechten Tendenzen.

Tocotronic (Foto: IMAGO, imago images / opokupix)
Seit 2015 setzen sich Tocotronic gemeinsam mit ProAsyl auch für den Schutz Geflüchteter ein. Antifaschismus und politische Partizipation spielen schon seit der Gründung eine zentrale Rolle in der Band.

Tocotronic haben die meisten der Songs auf „Nie wieder Krieg“ zwischen 2018 und 2019 geschrieben, da war an so etwas wie eine Pandemie kaum zu denken. Trotzdem wirken die Stücke wie eine empathische Reaktion auf die Krise, ein Appell an gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Als der Song „Hoffnung“ 2020 kurz nach dem ersten Lockdown in Deutschland veröffentlicht wurde, hätte er brisanter kaum sein können. Ein richtiger Trostspender, erklärten die Kritiker*innen. Überraschend reizlos, befanden die Fans.

Gedämpfte Stimmungen und weniger Rebellion

Und doch reiht er sich perfekt ein in den Erzählstrang, den das Album vom ersten bis zum letzten Song bietet. Man durchläuft meist gedämpfte Stimmungen; ist melancholisch, nachdenklich, manchmal auch wohlgelaunt und beseelt.

Dafür weniger wütend und rebellisch. Das spiegelt sich auch musikalisch wider; in dem getragenen Duett „Ich tauche auf“ mit der österreichischen Sängerin Soap&Skin, in dem rockig treibenden „Komme mit in meine feine Welt“ oder in dem Gitarren-Popsong „Liebe“.

Dieses Lied mutet zunächst entwaffnend naiv an, beim genaueren Hinhören aber trübt sich die Harmonie ein. „Die Liebe kommt mir in dem Lied vor wie ein mechanischer Vorgang fast, und die hat auch eine ziemlich manipulative Kraft. Sie dreht sich um, heißt es da, oder sie schaltet dich stumm, und sie setzt dich auf Null“ sagt Tocotronic-Sänger von Lowtzow über den Song.

Wo bleiben Negativität und Verweigerung?

„Nie wieder Krieg“ ist ganz klar ein tocotronisches Werk, Musik und Text haben Wiedererkennungswert und das ist in der Tat tröstlich. Denn in Zeiten, in denen so vieles aus den Fugen zu geraten scheint, bilden von Lowtzow & Co. mit ihrer Isolationsthematik und dem gewissen Nerdtum eine Konstante.

Doch bei allem Respekt vor der legendären Popband, an deren Lippen zahlreiche Fans schon seit fast 30 Jahren hängen: Wo bleibt die sonst so fein begründete Negativität, die Verweigerung in ihren Songs?

Trost, Hoffnung und Zusammenhalt ist hier die Message, die nur manchmal ironisch gebrochen wird. Vielleicht wollte Tocotronic einmal nicht an den gesellschaftlichen Verhältnissen zweifeln, um Antidemokraten und Schwurblern nicht in die Karten zu spielen.

Ein feinfühliges Hippie-Album

Denn auch der Rock’n’Roll ist zum Minenfeld geworden, auf dem man sich sachte fortbewegen muss, wenn man nicht will, dass eigene Inhalte die falschen Energien freisetzen. In der Tocotronic-Diskografie könnte „Nie wieder Krieg“ so als feinfühliges Hippie-Album gelesen werden, ein Synonym für „Make Love Not War“ - und das ist ja auch ein Slogan, der sich pophistorisch durchaus bewährt hat.

Zum Release ihres neuen Albums veranstalten Tocotronic ein Release-Konzert im Berliner Club SO36. Ab 19 Uhr beginnt der Stream auf YouTube.

Gespräch Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow: „Der Song ‚Freiburg‘ wird nie seine Gültigkeit verlieren“

Dirk von Lowtzow beschreibt in seinen Texten oft ein Gefühl des ausgegrenzt seins. Während seiner Jugend in Offenburg fühlte er sich selbst als Außenseiter. Die elektrische Gitarre und das Songschreiben gaben ihm Halt

SWR2 Tandem SWR2

Stand
KÜNSTLER/IN
Tocotronic
AUTOR/IN
Vanessa Wohlrath