Buchkritik

Zadie Smith – Betrug

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AUTOR/IN
Christoph Schröder

Ein Hochstapler wird im viktorianischen London zum Medienstar – und zur Galionsfigur für die Unterprivilegierten. In ihrem ersten historischen Roman erzählt Zadie Smith von einem der bekanntesten Gerichtsfälle Englands, der Arm und Reich gegeneinander aufbrachte.

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Literarisch hochversiert zieht Smith die Spur in die Gegenwart, in der Fake News und charismatische Hochstapler die Öffentlichkeit faszinieren. Ein komplexer, unterhaltsamer Roman mit tiefernster Grundierung.

Die Geschichte, die das pulsierende Zentrum von Zadie Smiths Roman bildet, ist so grotesk und unglaublich, dass sie eigentlich nur ausgedacht sein kann. Doch tatsächlich hat sie sich in ihren Grundzügen genau so ereignet: Im Jahr 1866 taucht ein Mann in London auf und behauptet, der seit Jahren verschollene Roger Tichborne zu sein.

Der Sohn einer englischen Adelsfamilie war einst von seinen Eltern auf Reisen geschickt worden, nachdem er eine unstatthafte Liaison mit seiner Cousine begonnen hatte. Im Jahr 1858 verliert sich Tichbornes Spur. Es wird angenommen, dass er auf dem Seeweg nach Jamaika mit seinem Schiff untergegangen ist.

Groteske Geschichte eines Hochstaplers im viktorianischen London

Der Mann, der sich nun als Roger Tichborne ausgibt, hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem filigranen, gebildeten Adeligen: Er ist dick und grob, spricht kein Französisch und kennt keine Details aus seiner vermeintlichen Kindheit. Ein Betrüger, ohne Zweifel.

Doch Tichbornes mittlerweile verwitwete, schwerreiche Mutter will in dem Hochstapler ihren Sohn wiedererkennen und erkennt ihn als Erben an. Nach ihrem Tod im Jahr 1868 führt ihre Familie dann einen Prozess gegen den vermeintlichen Verwandten, der sich am Ende als ein aus Australien eingereister Metzger namens Arthur Orton entpuppt.

Die detaillierten Beschreibungen des Prozesses gegen den angeblichen Roger Tichborne ziehen sich wie ein roter Faden durch Zadie Smiths Roman. Oft in Dialogform zelebriert Smith die gesamte Komik und Absurdität, die hinter dieser groß angelegten Posse steckt.

Medienstars und Fake News machen den historischen Roman gegenwärtig

Doch natürlich geht es Smith nicht um die bloße Rekonstruktion einer historischen Kuriosität. Extrem gegenwärtig wird „Betrug“ durch den Fokus, den Smith auf die öffentlichen Reaktionen auf den Prozess wirft: Jener Arthur Orton wird nicht nur zum Medienstar und trägt zur Auflagensteigerung sämtlicher Zeitungen bei – vor allem wird er zur Galionsfigur der Unterprivilegierten.

Der hässliche, ungehobelte Mann wird zum lebenden Beweis dafür, dass man es denen da oben einmal richtig zeigen kann, wenn man nur genug Mut und Dreistigkeit besitzt. Die Masse glaubt an die vermeintlich adlige Identität des offensichtlichen Scharlatans, weil auf diese Weise kenntlich wird, dass der Adel nicht mehr taugt als der einfache Mann. Diese Faszination für Fake News und charismatische Hochstapler, befeuert von den Medien, ist so gegenwärtig wie sonst nichts.

Ein ehemaliger Sklave wird zum Hauptzeugen

Beobachtet wird dieser Prozess in „Betrug“ von einer Frau, die Zadie Smith ganz allmählich von einer Neben- zur Hauptfigur macht: Eliza Touchet ist Schottin, überzeugte Gegnerin der Sklaverei und die Cousine und Haushälterin des heute vergessenen Schriftstellers William Ainsworth.

Dessen Verfall vom gefeierten Erfolgsautor zum abgehalfterten Schwiemelpoeten zeichnet Zadie Smith nebenbei mit, wobei die Grenze zwischen Charakterstudie und Karikatur fließend ist.

Ganz anders bei einer Figur, die im letzten Drittel des Romans zum eigentlichen Helden wird: Andrew Bogle tritt im Tichborne-Prozess als Hauptzeuge auf. Der ehemalige Sklave aus Jamaika kennt den echten Roger Tichborne seit dessen Kindheit – und bestätigt dennoch die Echtheit der Identität des falschen Heimkehrers.

Unterhaltsamer Roman mit tiefernster Grundierung

Eliza Touchet spricht Andrew Bogle an und fordert ihn auf, seine Geschichte zu erzählen. Es ist eine niederschmetternde Geschichte von Misshandlungen auf den Zuckerrohrplantagen, von Grausamkeiten, von Rassismus. Er sei, so sagt Bogle einmal, nur noch eine leere Hülle, die aber ungemein tüchtig sei.

Zadie Smith bleibt in „Betrug“ also ihren Generalthemen treu, kleidet sie aber in einen trotz seiner komplexen Struktur ungemein unterhaltsamen Roman. „Betrug“ ist im besten Sinne ein Schmöker. Aber seine tiefernste Grundierung ist beim Lesen stets präsent.

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