- Vom Glück des Unperfekten: Heimspiel der SWR Big Band
- Wie wir wurden, was wir sind: Ewald Fries „Ein Hof und elf Geschwister“
- Verspätete Entdeckung: Das „Gesamtkunstwerk“ Heinz Strunk
- Die eine Wahrheit gibt es nicht: Daniel Speck „Jaffa Road“
- Wert der Freundschaft: „The Visitors“ von Ragnar Kjartansson
- Schmerz über Russland: Teodor Currentzis dirigiert Dmitrij Schostakowitsch
Vom Glück des Unperfekten: Heimspiel der SWR Big Band
Karin Gramling
Da ist er wieder, dieser spezielle warme Sound der SWR Big Band, der mich sofort mitnimmt und einhüllt. An einem Sonntagabend in der Stuttgarter Phoenixhalle. Vor der Bühne liegen Teppiche, in der ersten Reihe versinkt das Publikum in bequemen Sofas.
Wen sich die SWR Big Band zu ihrer Konzertreihe „Heimspiele“ einlädt, bleibt bis zur zweiten Hälfte des Konzerts geheim. Dieses Mal sind es der Sänger und Pianist Meddy Gerville von der Insel La Réunion und der junge Saxophonist Jakob Manz. Kreolische Musik trifft auf Big Band Sound.
Niemals hätte ich Gerville entdeckt. Egal von welchem Platz, von überall kann man genau beobachten, was auf der Bühne passiert: wie sich diese durchweg exzellenten Musiker nach einem gelungen Solo gegenseitig freundlich anlächeln, zustimmend mit den Köpfen nicken oder ihren Kollegen applaudieren. Das strahlt auch aufs Publikum aus, das ebenfalls mitswingt, mit den Füßen wippt, aufmerksam zuhört.
Das Konzert als Video:
Dafür sorgt auch der Schwede Magnus Lindgren mit seinen komplexen Arrangements. Seit Jahren ist er der SWR Big Band eng verbunden und komponiert auch für sie. Lindgren führt souverän durch den von ihm arrangierten Abend, der von einem musikalischen Höhepunkt zum nächsten jagt. Alle geben ihr Bestes.
Und dann kommt plötzlich ein für mich unvergesslicher Moment: Die Band ist am Improvisieren, wild hört sich das an. Ist es Absicht? Gerät da was ins Schlingern? Ist der Tanker Big Band außer Kontrolle geraten? Mitnichten! Hier hört jeder auf jeden.
Lindgren bekommt die Vollprofis wieder in die Spur. Das Glück des Unperfekten, einen kleinen Moment erlebbar durch diese großartige Live-Band. Schlussakkord. Standing Ovation vom Publikum.
Wie wir wurden, was wir sind: „Ein Hof und elf Geschwister“ von Ewald Frie
Rainer Volk
Wer wie ich auf dem Dorf groß geworden ist, bei dem evoziert das Buch „Ein Hof und elf Geschwister“ des Historikers Ewald Frie sofort Bilder, auch Gerüche von Vieh und von Heu, oder Geräusche vom Tuckern eines Traktors vor der Haustür. Das gibt es heute so nicht mehr. Die kleinen Höfe sind verschwunden. Milchwirtschaft lohnt sich erst ab einer bestimmten Anzahl von Kühen. Ein paar Schweine sind nichts.
Kann sein, dass ich das vorher schon wusste. Aber Ewald Frie erklärt am Beispiel seiner Familiengeschichte, welche Veränderung in der Gesellschaft stattgefunden hat. Er tappt dabei nicht in die Falle der Nostalgie. Es war nichts schöner oder besser damals. Es war nur anders.
Zeitgenossen Ewald Frie: „Ich will die Unselbstverständlichkeit der Gegenwart zeigen“
Wie bewältigt man Krisen? Im Kriegs- und Katastrophenjahr 2023 veröffentlichte der Tübinger Historiker Ewald Frie mit einem Kollegen den Band „Krisen anders denken“.
Manches liest sich auch für jemanden, der in den 1960er- und 1970er-Jahren groß wurde, seltsam. Elf Geschwister zum Beispiel. Fries Mutter war über gut zwanzig Jahre immer wieder schwanger. Aber als „Gebärmaschine“ wird sie in diesem Buch nicht dargestellt, sondern als tiefgläubige Frau, die, wie ihr Mann, den Kindern den sozialen Aufstieg durch Bildung ermöglichte. Weil man erkannt hatte, dass die Landwirtschaft im Familienbetrieb keine Zukunft mehr haben würde.
Ich denke, dass sich Frie mit diesem kleinen Buch zu seinen Wurzeln bekennt. Ein Professor erklärt seine Herkunft als Landei. Für viele aus der Alterskohorte der 1960er- und frühen 1970er-Jahre mag das eine Ermutigung sein, über ihren Lebenslauf nachzudenken.
Konnten die Eltern von der Familientradition loslassen? Wer durfte aufs Gymnasium und hatte so andere Lebenschancen als die, die den Hof übernahmen oder ein Handwerk lernten, obwohl sie mehr gekonnt hätten? Fragen, die zeigen: Wie wir wurden was wir sind, ist zumindest nicht selbstverständlich.
Verspätete Entdeckung: Das „Gesamtkunstwerk“ Heinz Strunk
Mareike Gries
Wie konnte das nur passieren? Wieso habe ich so vielversprechenden Buchtiteln wie „Fleisch ist mein Gemüse“ oder „Der goldene Handschuh“ jahrelang keine Chance gegeben? Beststeller, alle haben sie gelesen. Alle außer mir. Oder wie Heinz Strunk es sagen würde: alle anderen ja, ich nein.
Mit dem Roman „Ein Sommer in Niendorf“ hat sich das Blatt gewendet. Ein Buch wie eine Offenbarung, zufällig vorgeschlagen von einer Hörbuch-App. Nicht nur die Geschichte um einen anfangs hochmütigen Geschäftsmann namens Roth hat mich gefesselt. Nicht nur diese eigentlich so simple und gleichzeitig universale Geschichte hat mich fasziniert, sondern auch die Art, wie Heinz Strunk sie für ein Hörbuch eingelesen hat.
Heinz Strunk - Ein Sommer in Niendorf
Nach „Sommer in Niendorf“ wollte ich alles von Heinz Strunk lesen, oder besser: hören. Chronologisch habe ich mir sein Œuvre vorgenommen, dann kamen die Filme, dann Podcasts, Lieder und Fernsehauftritte.
Heinz Strunk ist ein Meister der Intratextualität. Je besser ich ihn kennenlernte, desto mehr Strunk entdeckte ich in Strunk. Immer wieder geht es bei ihm um verkrachte Existenzen und die Leser sind froh, deren Leben nur anschauen und es nicht selbst führen zu müssen.
Die Taz hat einmal geschrieben, er habe das absolute Gehör für menschliche Zwischentöne. Und genau das ist so faszinierend. Denn was man aktuell schnell vergisst: Neben den großen, weltumspannenden Tragödien gibt es die alltäglichen Mikro-Dramen. Angesichts von Kriegen und Terror sind die von Strunk skizzierten menschlichen Abgründe fast schon tröstlich.
Die eine Wahrheit gibt es nicht: Daniel Speck „Jaffa Road“
Astrid Tauch
Samstag, der 7. Oktober 2023. Erst langsam sickerte die Tragweite der Eskalation des Konflikts im Nahen Osten durch. Aber dann geht es Schlag auf Schlag. Das ist der Moment, an dem ich Orientierung suche, eine Erklärung für das Warum. Warum dieser gegenseitige Hass, 75 Jahre nach Gründung des Staates Israel?
Ich suche nach Antworten und finde sie in der Fiktion, in dem Roman „Jaffa Road“ von Daniel Speck von 2021. Eine Familiensaga, 670 Seiten lang, die kurz vor der Staatsgründung Israels einsetzt, ein halbes Jahrhundert umspannt und die den Nahostkonflikt aus verschiedenen Perspektiven betrachtet.
Daniel Speck beschreibt in nüchternem Ton das Unrecht, das jüdische Immigranten an der arabischen Bevölkerung begehen. Wie sie die Häuser der Geflohenen plündern, tausende Bauern erschießen.
Aber mit dem Protagonisten Moritz, der mit seiner jüdischen Familie in eben diesem Jaffa lebt, erfährt man auch von den vielen Holocaustüberlebenden, die sich nach Heimat und Geborgenheit sehnen und dieses Ziel auch auf Kosten der arabischen Nachbarn durchsetzen. Der Autor wechselt mit jedem Kapitel die Perspektive, fasst die Zweifel und Selbstbefragungen seiner Protagonisten in eindringliche Dialoge. Und er verleiht Ereignissen aus dem Nahostkonflikt Namen und Gesichter.
Was ich aus diesem Roman ziehe, sind nicht nur historische Fakten, sondern es ist die Erkenntnis, dass der gegenseitige Hass Familien zerstört und das Leben der nachfolgenden Generationen bestimmt. Es gibt nicht die eine Wahrheit. Wahrheit entsteht im gegenseitigen Zuhören und Respektieren der unterschiedlichen Perspektiven auf den Nahostkonflikt.
Wert der Freundschaft: „The Visitors“ von Ragnar Kjartansson
Giordana Marsilio
Ein dunkler Raum, neun Leinwände und Musik, die einen hypnotisiert. Ich betrete ihn und setze mich auf den Boden. Der erste Gedanke ist „Ich schaue es mir kurz an.“ Doch 64 Minuten später schaue ich immer noch, verzaubert und verändert.
„The Visitors“ heißt diese Videoinstallation des isländischen Künstlers Ragnar Kjartansson. In diesem Werk verarbeitet er das Ende seiner Beziehung zu seiner Frau. Und darauf bezieht sich auch der Titel „The Visitors“, denn das ist auch der Name des letzten Albums von „ABBA“ von 1981, vor der Trennung der Band.
In „The Visitors“ geht es einerseits um das Ende einer Liebe, andererseits feiert Kjartansson eine starke und wertvolle Bindung, die Freundschaft.
Einblick in die Installation:
In einer Badewanne singt Kjartansson nackt und spielt dabei Gitarre. Eine Frau spielt in einem Flur Cello, ein Schlagzeuger steht mitten im Wohnzimmer. Acht Musikerinnen und Musiker sowie ein Chor spielen mehr als eine Stunde lang verschiedene Teile desselben Liedes, das sich, wie in einer Schleife, immer wieder wiederholt.
Als ich in „The Visitors“ eintauche, wünsche ich mir, dass dieser Moment nie endet. Die Menschen um mich herum verschwinden, ich fühle mich allein, aber nicht einsam. Dieses Kunstwerk offenbart alle Kontraste und Facetten der menschlichen Gefühle: Zerbrechlichkeit und Kraft, Liebe und Melancholie, Einsamkeit und Gemeinschaft. Und das alles mit einer Musik, die fesselt und berührt.
Alle legen ihre Instrumente ab, verlassen die Räume und gehen aus der Villa hinaus. Sie sind jetzt wieder beisammen und rennen frei in die Landschaft. Und so fühle ich mich auch, als ich den Raum im Museum verlasse: befreit, gereinigt wie durch eine Katharsis.
Schmerz über Russland: Teodor Currentzis dirigiert Dmitrij Schostakowitsch
Wilm Hüffer
„An Babi Jar erinnert sich niemand.“ So lauten die berühmten ersten Zeilen aus dem Gedicht von Jewgenij Jewtuschenko, das Dmitrij Schostakowitsch in seiner 13. Sinfonie vertonte. Es ist eine musikalische Anklage: 33.000 Jüdinnen und Juden sterben im September 1941 in der Babi-Yar-Schlucht bei Kiew, getötet von deutscher Polizei, Wehrmacht und SS.
Fahl klingt das SWR-Symphonieorchester zur Eröffnung der neuen Spielzeit in Stuttgart. Am Pult: der griechische Dirigent Teodor Currentzis, der mit diesem Konzert ein Risiko eingeht.
Sollte ausgerechnet er dieses Werk dirigieren, das von deutschen Verbrechen auf ukrainischem Boden handelt? Ein Dirigent, der seit vielen Jahren in Russland tätig ist? Dem Kritiker vorwerfen, dass er sich nicht öffentlich von Präsident Putin distanziert? Der in Russland sein eigenes Ensemble aufgebaut hat, MusicaAeterna, finanziert von russischen Banken? Schweigt Currentzis wirklich? Oder spricht er so, wie er es immer tut: nämlich durch die Musik?
„Oh, mein russisches Volk“, singt Alexander Winogradow, der Solist in der Stuttgarter Aufführung, „oft haben jene mit den schmutzigen Fingern deinen Namen besudelt.“ Vielsagende Zeilen des Dichters Jewtuschenko. Denn die Anklage dieser Sinfonie richtet sich auch gegen die russische Gesellschaft selbst.
Gegen die sowjetische Elite, der die ermordeten Juden gleichgültig waren. Gegen das Schweigen zu den Verbrechen auf ukrainischem Boden. Eine Klage, die sich ebenso als Kritik am Russland der Gegenwart verstehen lassen. Denn auch heute schweigt die russische Gesellschaft. Schweigt zu den Zerstörungen in der Ukraine. Schweigt zu hunderttausenden Todesopfern eines sinnlos entfesselten Krieges.
Es wirkt erstaunlich, dass den Kritikern von Teodor Currentzis die Aktualität der Babi-Jar-Sinfonie entgangen ist. Und damit auch das musikalische Statement von Currentzis. Für ihn ist Kommunikation vor allem: Kommunikation durch Musik, nicht durch politische Statements. Wer das ernst nimmt, wird Teodor Currentzis verstehen.
Und auch die großartige Aufführung der Babi-Jar-Sinfonie aus dem Herbst 2023, mit dem SWR-Symphonieorchester. Diesen musikalischen Schmerzensschrei – mit dem Blick auf das Russland der Gegenwart.