Stacheldrahtzaun sollte Gefangene an der Flucht aus dem Konzentrationslager Auschwitz hindern (Foto: IMAGO, Revierfoto)

Erinnern an die Shoa

Holocaust-Gedenktag 2024: „Wir leben in präfaschistischen Zeiten“

Stand

7000 Menschen konnte die Rote Armee lebend aus Auschwitz befreien, als sie am 27. Januar 1945 auf ihrem Vormarsch Richtung Nazi-Deutschland das Konzentrations- und Vernichtungslager erreichte. 7000 von insgesamt über 1,1 Millionen Toten, die die Nazis allein in Auschwitz vergasten, zu Tode folterten und verhungern ließen. Eine der Überlebenden, die damals 12-jährige Eva Szepesi, schwieg lange über die traumatischen Erlebnisse. Zum diesjährigen Holocaust-Gedenktag im Bundestag ist sie eine der Gastrednerinnen, um die Erinnerung an die Gräueltaten der Nazis wachzuhalten.

Eine weiße Rose auf dem Holocaust-Mahnmal Berlin (Foto: IMAGO,  IPON)
Antisemitische und faschistische Ideologien nehmen zu – der Holocaust-Gedenktag mahnt 2024 mit besonderer Dringlichkeit.

Aufarbeitung über Generationen hinweg

Seit 1996 gibt es in Deutschland den „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“, den der damalige Bundespräsident Roman Herzog eingeführt hatte. 2006 erklärten die Vereinten Nationen den Jahrestag der Auschwitz-Befreiung zum internationalen Gedenktag. Seitdem finden an oder um den 27. Januar herum auf der ganzen Welt Veranstaltungen statt, um der Nazi-Verbrechen zu gedenken und vor Judenhass zu mahnen.

Zeitgenossen | Holocaust-Gedenktag 2024 Elke Gryglewski: „Antisemitismus ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen“

Die steigende Zahl von Anschlägen auf Gedenkstätten zeigt für Elke Gryglewski, dass „die Forderung der Rechten nach einer anderen Erinnerungskultur salonfähiger wird.“

SWR2 Zeitgenossen SWR2

Die offizielle Gedenkstunde des Deutschen Bundestags findet in diesem Jahr am 31. Januar statt und steht im Zeichen der generationenübergreifenden Aufarbeitung des Holocausts. Die 91-jährige Auschwitz-Überlebende Eva Szepesi und der 74-jährige Sportreporter Marcel Reif sind als Gastredner geladen. Sie vertreten die sogenannte erste und die zweite Generation von Shoa-Überlebenden.

Eva Szepesi konnte lange nicht über Auschwitz sprechen

Eva Szepesi wurde 1932 in eine jüdische Familie in Budapest geboren und Ende 1944 von den Nazis nach Auschwitz deportiert. Bei der Befreiung des Lagers war sie 12 Jahre alt. Sie gehört damit zu den wenigen Kindern, die die Vernichtungslager und Todesmärsche überlebt haben.

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Ein halbes Leben lang hat Eva Szepesi nicht über ihr Schicksal gesprochen. 1995, am 50. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung, brach sie erstmals ihr Schweigen und schrieb ihre Erinnerungen in einem Buch nieder. Heute leistet die 92-jährige Zeitzeugin wichtige Erinnerungsarbeit, erzählt Schülerinnen und Schülern ihre Geschichte.

Marcel Reif erfährt erst spät von der Familiengeschichte

Der bekannte Fußball-Kommentator Marcel Reif wusste wenig über seine jüdische Familiengeschichte. Dass er der Sohn eines Holocaust-Überlebenden ist, erfährt der 1949 in Polen geborene Sport-Journalist erst nach dem Tod des Vaters. Denn ähnlich wie Eva Szepesi konnte Leon Reif Zeit seines Lebens nicht über die traumatischen Erlebnisse sprechen.

Heute recherchiert Marcel Reif intensiv das Schicksal seiner jüdischen Familie im Holocaust. Vermutlich war es der Industrielle Berthold Beitz, der Leon Reif das Leben rettete, indem er ihn in letzter Minute vom KZ-Deportationszug holte. Viele weitere Familienmitglieder wie Marcel Reifs Großvater starben in den Konzentrationslagern der Nazis.

Fokus in diesem Jahr auf jungen Erwachsenen

Die Erinnerung an die Shoa über Generationen hinweg wachzuhalten, das haben sich Eva Szepesi und Marcel Reif zur Aufgabe gemacht. Denn Erinnerung lebt von Begegnungen. Persönliche Erlebnisse von Menschen machen die Vergangenheit erfahrbar.

Wie kann eine lebendige Erinnerungskultur aussehen, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt? Der diesjährige Holocaust-Gedenktag legt den Fokus auf jüngere Menschen, die das Gedenken an NS-Verfolgung innerhalb der Familie und der Gesellschaft über Generationen hinweg aufrecht erhalten haben.

Im Rahmen des diesjährigen Gedenktages sind junge Erwachsene, die sich bereits zum Thema Erinnerungskultur engagieren, zu einer mehrtägigen Jugendbegegnung eingeladen. Auf dem Programm stehen neben Gesprächen, Workshops, Filmvorführungen, Besuchen von Gedenkstätten sowie der „Arolsen Archives“ im nordhessischen Bad Arolsen auch eine Podiumsdiskussion mit den beiden Gastrednern an der Gedenkveranstaltung im Bundestag.

Jüdische Stimmen der Gegenwart

Nicht nur die wenigen noch lebenden Zeitzeug*innen erinnern an die Vergangenheit. Es sind auch die jüdischen Stimmen der Gegenwart, die durch ihr Engagement in der Öffentlichkeit jüdisches Leben in Deutschland sichtbar und normal machen. Stimmen wie die des Kulturmanagers Robert Ogman. Der gebürtige New Yorker und Wahlstuttgarter begegnet dem spürbar wachsendem Antisemitismus in Deutschland unermüdlich mit Aufklärung.

Wir leben in präfaschistischen Zeiten.

Auch die Publizistin Marina Weisband findet es bedrohlich, dass faschistische Ideologien weltweit zunehmen. „Ich muss mich aufs Kämpfen einstellen“, sagt die jüdische Deutsch-Ukrainerin in SWR2. „Wir leben in präfaschistischen Zeiten.“

Im Angesicht der Kriege in der Ukraine und Israel, des erstarkenden Antisemitismus und der Vertreibungsfantasien rechtsextremer Politiker*innen in Deutschland gewinnt der Holocaust-Gedenktag in diesem Jahr eine besondere Dringlichkeit.

Allein in Auschwitz starben 1,1 Millionen Menschen

Im vergangenen Jahr galt der Holocaust-Gedenktag besonders jenen Menschen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität in der NS-Zeit getötet wurden. Denn nicht nur Jüdinnen und Juden verfolgten und ermordeten die Nationalsozialisten, sondern zahlreiche gesellschaftliche Gruppen, die der nationalsozialistischen Rassen-Ideologie nicht entsprachen: Sinti*ze und Rom*nja, Homosexuelle, Menschen mit Behinderungen Zeugen Jehovahs und politische Gegner*innen.

Trier

Holocaust-Überlebender aus Trier spricht vor UN Christian Pfeil: "Es ist wichtig, dass man immer wieder seine Geschichte erzählt"

Der Holocaust-Überlebende Christian Pfeil spricht im Rahmen des Holocaust-Gedenktages vor den Vereinten-Nationen in New York. Wir haben mit dem 80-jährigen Sinto gesprochen.

Aktuell um 12 SWR1 Rheinland-Pfalz

Allein im KZ- und Vernichtungslager Auschwitz ermordeten die Nazis 1,1 Millionen Menschen. Man schätzt, dass insgesamt über sechs Millionen Jüdinnen und Juden durch die Nazis ermordet wurden – mehr als die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Europas.

Antisemitismus heute

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SWR2 Zeitgenossen SWR2

Gesellschaft Über Antisemitismus sprechen (1/2) – Was hilft gegen Judenhass?

Jahrzehntelange Aufklärungsarbeit hat es nicht geschafft, den Antisemitismus in Deutschland zu beseitigen. Im Gegenteil: Jüdinnen und Juden in Deutschland fühlen sich so bedroht wie niemals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Was ist schief gelaufen?

SWR2 Wissen SWR2

SWR2 Glauben Gegen den Hass – Wie ein Muslim den Antisemitismus bekämpft

Nie wieder Auschwitz - müsste als Vereinbarung der Migrationsgesellschaft selbstverständlich sein. Doch was tun, wenn es selbst auf deutschen Schulhöfen Antisemitismus gibt? 

SWR2 Glauben SWR2

Politik Antisemitismus in der deutschen Linken – Unterschätzter Judenhass

Der Antisemitismus-Skandal auf der documenta zeigt einmal mehr: es gibt Judenhass auch im politisch linken Milieu. Dieser Antisemitismus wurde bisher kaum beachtet oder aufgearbeitet.

SWR2 Wissen SWR2

Gespräch Debatte um Berliner Antisemitismusklausel: Wie definiert man Antisemitismus?

Wer in Berlin in Zukunft Kulturförderung möchte, muss sich mit einer Antidiskriminierungs-Klausel gegen Rassismus und Antisemitismus bekennen. Doch es gibt Kritik an der zugrunde gelegten Antisemitismus-Definition.

SWR2 Kultur aktuell SWR2

Nie Vergessen – Holocaust und Erinnerung

Tanzperformance als gelebte Erinnerung Kommunistin und „Euthanasie“-Opfer: Schicksale hinter den Stolpersteinen als Tanzperformance

Orli und Henriette – zwei Frauen, von den Nazis verfolgt, gebrochen, getötet – ihre Biographien stehen stellvertretend für unzählige Opfer. Kleine Messingsteine vor ihren ehemaligen Wohnungen – so genannte Stolpersteine – und eine Performance zweier junger Tänzerinnen des Theaters Trier erinnern an ihr Leben und Schicksal.

Gespräch Aleida Assmann über Antisemitismus und Erinnerung – Der Holocaust bleibt Zentrum der Erinnerungskultur

Die Erinnerung, die eine Gesellschaft mit sich trägt, ist nicht statisch, sondern ändert sich ständig. Deshalb muss sie immer wieder neu in Gesprächen verhandelt werden, sagt die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann in SWR2.

SWR2 Journal am Mittag SWR2

Musikthema Silent Tears – Eine musikalische Aufarbeitung der eigenen Holocaust-Vergangenheit

Überlebende Holocaust-Frauen aus Osteuropa sind nach dem Krieg ins Exil nach Kanada gegangen. Sie haben nach Jahrzehnten das Schweigen gebrochen und erzählen ihre Geschichte in Form von vertonten Gedichten auf dem jiddischsprachigen Album „Silent Tears: The Last Yiddish Tango“. Sie sprechen von Folter, Verlust von Kindern und sexuellem Missbrauch. Marlene Küster berichtet.

SWR2 Treffpunkt Klassik SWR2

Erinnerungskultur Holocaust-Gedenken – Wie Jugendliche das Erinnern lernen

Zeitzeugen, die von ihrer Geschichte erzählen könnten, gibt es bald nicht mehr. Doch Gedenkstättenbesuche sind für Schulklassen oft nur öde Pflichtbesuche. Wie vermittelt man Jugendlichen den Holocaust?

SWR2 Wissen SWR2

Mainzer Erstaufführung Das Grauen von Auschwitz als Oper: „Die Passagierin“ am Staatstheater Mainz

Am Staatstheater Mainz ist Mieczyslaw Weinbergs beklemmendes Meisterwerk in einer Inszenierung von Nadja Loschky und unter der Leitung von Hermann Bäumer zu erleben.

SWR2 Journal am Mittag SWR2

Hörbuch Berührend: Katharina Quast liest „Jeder Stein erzählt von einem Leben“ von Jackie Kohnstamm

Die Britin Jackie Kohnstamm entdeckt bei einer Internetrecherche zufällig Stolpersteine, die für ihre Großeltern in Berlin verlegt wurden. Anlass für sie, die Geschichte ihrer Familie zu erforschen.

SWR2 am Samstagnachmittag SWR2

Jüdische Stimmen der Gegenwart

Hausbesuch Gegen die Beklemmung – Robert Ogman macht jüdisches Leben im Südwesten sichtbar

Robert Ogman möchte jüdisches Leben in Deutschland heute zu etwas Normalem machen – durch seine Arbeit für die Kulturregion Stuttgart, bei Schulbesuchen, aber auch, wenn er sein Fahrrad aus der Werkstatt holt.

SWR2 am Samstagnachmittag SWR2

Gespräch Marina Weisband: „Ich muss mich aufs Kämpfen einstellen“

Nach dem Terror der Hamas und den Correctiv-Recherchen steht der Holocaust-Gedenktag in diesem Jahr in einem bedrohlichen Kontext. Marina Weisband zeigt sich wenig überrascht von den Entwicklungen.

SWR2 am Samstagnachmittag SWR2

Gespräch Max Czollek: „Fall Aiwanger zeigt die Kontinuität von Antisemitismus in Deutschland“

Die Diskussion um Hubert Aiwanger würde so geführt, als sei das Flugblatt eine Jugendsünde „und damit entschuldigt“, anstatt den Antisemitismus anzuprangern.

SWR2 Kultur aktuell SWR2

Mehr zu den Gastrednern

Schifferstadt

Auschwitz-Überlebende erzählt an Schulen in Schifferstadt Holocaust-Zeitzeugin: "Den Nicht-Überlebenden eine Stimme geben"

60 Jugendliche aus Schifferstadt lauschen den Worten einer Frau: Eva Szepesi erzählt als Zeitzeugin von ihrer Zeit in Auschwitz als 12-Jährige.

Baden-Württemberg

Holocaust-Überlebende Eva Szepesi Der Wächter in Auschwitz dachte, sie sei tot: So hat Eva Szepesi den Holocaust überlebt

Als Kind hat Eva Szepesi die Grauen des Konzentrationslagers Auschwitz erleben müssen. Überlebt hat sie nur, weil sie bereits für tot gehalten wurde.

Leute SWR1 Baden-Württemberg

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