Aktionswochen gegen Rassismus

„Rassismus bedeutet für mich Mord“: Paulino José Miguel hat viel Ausgrenzung erlebt

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AUTOR/IN
Zülâl Acar

Der Heidelberger Erziehungswissenschaftler Paulino José Miguel kam mit elf Jahren ganz allein als Vertragsarbeiter aus Mosambik in die ehemalige DDR. Was ihn erwartete, wusste er nicht. Die Schule habe ihn motiviert, sich in Deutschland durchzukämpfen, sagt Miguel in SWR Kultur: „Ich wollte unbedingt an die Uni“. Heute engagiert sich der 53-Jährige gegen Rassismus und für die Aufarbeitung der DDR-Geschichte.

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„Rassismus müssen wir gemeinsam angehen“

Paulino José Miguel blickt auf ein turbulentes Leben zurück. Mehrere Dutzend Akten-Ordner umgeben den 53-Jährigen in seinem Heidelberger Büro. Er blättert durch seine vergangenen Reden.

Miguel engagiert sich seit vielen Jahrzehnten gegen Rassismus und für migrantische Teilhabe. Er leitet unter anderem für das Forum der Kulturen Stuttgart den Bereich Migration und Entwicklungspolitik und übernimmt in diesem Jahr die Schirmherrschaft der Aktionswochen gegen Rassismus in Stuttgart.

Aktionswochen gegen Rassismus Stuttgart - Portrait Paulino José Miguel (Foto: SWR, Zülâl Acar  )
Als ehemaliger Vertragsarbeiter in der DDR engagiert sich Paulino José Miguel dafür, dass die Geschichte der DDR-Arbeitsmigration aufgearbeitet wird.

„Rassismus bedeutet für mich Mord“, sagt Miguel. „Wir müssen das gemeinsam angehen. Am Ende von diesem Thema stehen Menschenleben. In Deutschland wurden viele Menschen Opfer von Rassismus.“

Mit elf Jahren ganz allein in die fremde DDR

Miguel verlässt in den 1980er Jahren als knapp Elfjähriger Mosambik, um in der DDR eine Ausbildung zu machen. Denn die beiden sozialistischen Staaten halten in einem Vertrag fest, dass mehr als 21.000 junge Menschen aus Mosambik zum Arbeiten in die DDR geschickt werden sollen.

Für Paulino Miguel ist das eine Reise ins Ungewisse. „Ich wusste nicht, was das ist“, sagt Miguel, der damals ganz allein sein Land verließ. „Ich wohnte in einem Dorf, wo die neueste Zeitung vielleicht drei oder vier Monate alt war. Die Regierung hat das so entschieden.“

Rassismus als täglicher Begleiter

Die DDR suchte damals dringend Vertragsarbeiter. Mosambik, das gerade erst die Unabhängigkeit erlangt hatte, konnte nicht alle Arbeiter beschäftigen. Paulino Miguel wird im Metallgusswerk Weningerode eingesetzt.

Ich habe einen Kollegen verloren, als wir fünfzehn Jahre alt waren. Er wurde über eine Brücke geworfen und ist dann ertrunken. Heute will keiner darüber reden.

Dort versucht er nicht aufzufallen, passt sich dem strengen Umgangston im Handwerks-Betrieb an. Ausgrenzungserfahrungen gehören aber an die Tagesordnung. „Zu DDR-Zeiten gab es auch viel Rassismus. Ich habe einen Kollegen verloren, als wir fünfzehn Jahre alt waren. Er wurde über eine Brücke geworfen und ist dann ertrunken. Heute will keiner darüber reden, dass es ein rassistischer Mord war“, sagt Miguel.

In der Unsicherheit packt Miguel der Ehrgeiz

In der ehemaligen portugiesischen Kolonie Mosambik gibt es in den späten 1970er Jahren Unruhen, Miguel muss dort in den Bürgerkrieg. Eine traumatische Lebensphase. Viel Zeit zum Verarbeiten bleibt ihm nicht, er geht als 18-Jähriger zurück in die DDR.

Nach dem Mauerfall kämpft er um seinen Aufenthalt. Irgendwo zwischen Ohnmacht, Wut und Angst packt ihn der Ehrgeiz. Es muss weitergehen. 

„Ich habe mich fokussiert auf das Thema Schule. Das war für mich ganz wichtig und mein Traum. Ich wollte unbedingt an die Uni. Ich habe nur eine Arbeit angenommen, wenn die Möglichkeit bestand, dass ich um 18 Uhr zu meinem Abendgymnasium gehen kann.“

Lernen und Gelerntes weitergeben

In Heidelberg studiert er Erziehungs- und Politikwissenschaft. Er lernt viel über die Probleme und Kämpfe der Gastarbeiter in Westdeutschland, was ihn nachhaltig inspiriert und für seine Arbeit motiviert.

Ich profitiere davon, dass in Westdeutschland sogenannte Migranten sehr früh angefangen haben diese Räume zu erkämpfen.

Miguel hält Seminare zum Thema Entwicklungsarbeit, vernetzt und unterstützt aber auch migrantische Vereine in Deutschland oder hält Vorträge in Schulklassen.

„Ich profitiere davon, dass in Westdeutschland sogenannte Migranten sehr früh angefangen haben diese Räume zu erkämpfen. Mein Antrieb ist es, zurückzugeben, was andere Menschen für mich gemacht haben.“

Paulino José Miguel lacht viel und wirkt gelassen, wenn er aus seinem Leben erzählt. Seinen Optimismus hat er sich nie nehmen lassen.

Aktuell promoviert er in Erziehungswissenschaften und ist deutschlandweit unterwegs, um sich gesellschaftspolitisch zu engagieren. Das Erstarken rechtsextremer politischer Kräfte in Deutschland und Teilen Europas entmutigt ihn aber keineswegs. 

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