Seit 150 Jahren erzählen wir mit den immer gleichen Mustern von Epidemien – egal ob Typhus, Cholera oder Corona. Das sagt der Journalist und Kulturwissenschaftler Andreas Bernard. Er erforscht in seinem neuen Buch „Die Kette der Infektionen“ die Erzählmuster, mit denen wir Epidemien begreifen.
Die Epidemiologie muss beruhigende Erzählmuster liefern
Die Idee für sein Buch sei ihm schon zu Beginn der Corona-Jahre gekommen, berichtet Bernard in SWR2. Damals hätten fast jeden Abend der Gesundheitsminister oder der Präsident des Robert- Koch-Instituts im Fernsehen über das „Infektionsgeschehen“ gesprochen.
„Geschehen“, das sei eigentlich ein Begriff aus der Literaturwissenschaft, eine lose Aneinanderreihung von Ereignissen, so Bernard. Erst mit dem Modell der „Infektionskette“ werde daraus ein Plot, der uns helfe, die Ereignisse zu verstehen. „Die Epidemiologie muss auch ein Erzählmuster liefern, das die Leute beruhigt und klar macht: Wir haben die Sache im Griff“, sagt der Autor.
Die Corona Warn App als kriminologisches Instrument
Die Idee von der „Infektionskette“ sei dabei schon 150 Jahre alt, so Bernard. Robert Koch und Louis Pasteur seien unter den ersten gewesen, die verstanden hätten: Wir stecken uns individuell durch Bakterien und Viren an, nicht über krankmachende Ausdünstungen, die alle gleichzeitig infizieren. Für den Kulturwissenschaftler Bernard ist klar: Das moderne Modell ist eine Detektivgeschichte. „Tracing Apps wie die Corona Warn App sind ein kriminologisches Instrument.“
Verschwörungstheorien sind Bankrotterklärungen vor der Komplexität
Trotzdem bleibe die Sache schwierig, denn auch die besten Warn-Apps und Tests lieferten keine hundertprozentig sicheren Aussagen. Deshalb steht für Andreas Bernard fest: Die Einsicht in unser Nichtwissen sollten wir aus den Corona-Jahren mitnehmen, das schütze uns auch gegen Verschwörungserzählungen. „Die Verschwörungstheorie ist eine Bankrotterklärungen vor der Komplexität. Und auch Zero Covid ist eine ähnlich strikte Erzählung wie eine Verschwörungstheorie, die keinen Raum für Komplexität lässt.“
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16.10.1957 | In den Jahren 1957 und 1958 sterben weltweit mehr als eine Million Menschen an der damals grassierenden Asiatischen Grippe. Es ist die zweitschlimmste Influenza-Pandemie des 20. Jahrhunderts, übertroffen nur durch die Spanische Grippe 1918 bis 1920. In Deutschland fallen der Asiatischen Grippe rund 30.000 Menschen zum Opfer. Trotz dieser schweren Epidemie findet sich in den Archiven des Südwestrundfunks zur Asiatischen Grippe nur ein einziger Bericht aus dieser Zeit, gesendet am 16. Oktober 1957. Es geht, auch damals, um die Folgen für die Wirtschaft und das öffentliche Leben – und natürlich auch um Vorbeugemaßnahmen. Händewaschen wird dabei noch nicht genannt, dafür das Gurgeln mit Wasserstoffsuperoxid sowie das Einnehmen formalinhaltiger Tabletten. Die Asiatische Grippe hat vor allem Kinder und Jugendliche getroffen. Insofern hätte es gute Gründe gegeben, die Schulen zu schließen, aber damit war man zurückhaltend. Der Unterricht fiel erst aus, wenn die Hälfte einer Klasse erkrankt war.