Am 2. August 2021, einem Sommermontag, ist Aline Rotter-Focken endlich ganz oben. Per 7:3-Sieg gegen die US-Amerikanerin Adelina Gray sichert sie sich das lang ersehnte Olympia-Gold im Freestyle-Ringen. Eine von Erfolgen und Rückschlägen geprägte Leistungssport-Karriere ist endlich gekrönt. "So wollte ich immer gehen. Es ist ein Kindheitstraum, der wahr wurde. Besser geht es nicht. Dafür habe ich jeden Tag gearbeitet", so Rotter-Focken direkt nach ihrem historischen Triumph in Tokio.
Die gebürtige Krefelderin, die mit ihrem Mann, Jan Rotter, in Triberg im Schwarzwald lebt, beendet im Anschluss ihre Zeit als aktive Ringerin. Bis auf den Titel der Europameisterin hat sie alle großen Erfolge, die ihre Sportart zu bieten hat, gewonnen. Dieser goldenen Medaille von Tokio wohnt aber bis heute ein besonderer Zauber inne, wie Rotter-Focken bei einer Rede am Montagabend in Stuttgart betont. Und dieser Zauber strahlt auch auf ihr Leben nach der Karriere aus.
Neue Herausforderungen abseits der Matte
Anlass für Rotter-Fockens Besuch in der baden-württembergischen Landeshauptstadt ist die Laudatio für die Verleihung der "Sterne des Sports in Silber". Die 32-Jährige berichtet hier auch von ihrer eigenen Karriere. Das Gold von Tokio hat sie dabei, lässt es sogar bei den anwesenden Vertretern aus Sport und Politik herumgehen. Die Prioritäten in ihrem Leben haben sich seit dem Ende ihrer Zeit als Leistungssportlerin aber deutlich verlagert. Im Mai 2022 kam das erste Kind, Sohn Ilian Georg, auf die Welt. Beruflich macht sie sich als Leistungssportreferentin beim Deutschen Ringer-Bund für ihre Nachfolgerinnen und Nachfolger auf der Ringer-Matte stark.
Von der harten und fordernden Sportart Ringen zur Mutter und Sportfunktionärin - ihr neues Leben bezeichnet die Olympia-Siegerin gegenüber SWR Sport als hundert Prozent anders. "Ich glaube Leistungssportlerin ist mit der egoistischste Job der Welt und Mama ist der am wenigsten egoistische Job der Welt", so Rotter-Focken, die ihren Ehemann in jungen Jahren über das Ringen kennenlernte. Trotz vieler Gegensätze zu früheren Zeiten sei das neue Leben wundervoll und herausfordernd.
Rotter-Focken: "Ich habe das Muttersein ein bisschen unterschätzt"
Der Wechsel zwischen den beiden Lebensrealitäten war für die deutsche Ringer-Ikone kein Selbstläufer. Das "Mama-Dasein" habe sie ein bisschen unterschätzt. "Ich dachte mir, wenn du Olympia-Gold gewinnen kannst, schaffst du das auch", sagt Rotter-Focken im SWR-Interview. Die veränderten Lebensumstände seien aber eine neue, emotionale Herausforderung. "Tatsächlich habe ich gedacht, dass ich vieles gewöhnt wäre und dass ich auch Schlafmangel und Erschöpfung kenne", berichtet die 32-Jährige. "Aber das ist einfach nochmal etwas ganz ganz anderes." Neu wären zum Beispiel die ständige Sorgen, die das Leben als Mutter mit sich bringe. Die hätte sich Rotter-Focken während ihrer Zeit als Top-Ringerin so nie gemacht.
In die neue Rolle sei die Weltmeisterin von 2014 dann aber "wie jede Mama" hereingewachsen. Und für manche Herausforderungen konnte Rotter-Focken dann auch von ihrer Sportlerinnen-Karriere zehren: "Die Geburt - solche Grenzerfahrungen hat man schon erlebt. Und Schmerzen lernt man auch auszuhalten. Für solche Dinge war der Sport unheimlich lehrreich."
Karrierende war lange in Vorbereitung
Beim Übergang aus dem aktiven Leistungssport ins weitere Berufs- und Familienleben setzte Rotter-Focken auch auf externe Hilfe. "Ich habe mich darauf vorbereitet, mit Psychologen, mit meinem Team und meinen Beratern", erzählte sie dem SWR. Statt einem universellen Rat hätte es viele Gespräche gegeben, "über die Identität, die man sein möchte". Man werde zwar immer über den Sport definiert, aber jetzt müsse man sich im normalen Leben beweisen. Mit ihren Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartnern arbeitete Rotter-Focken einen genauen Plan über Ziele und Prioritäten nach der Karriere aus. "Und auch darüber, wie ich einfach als Mama sein will."
Die Olympiasiegerin bleibt dem Ringen auch beruflich verbunden
Schon vor der Geburt ihres Sohnes im Mai 2022 trat die Wahl-Schwarzwälderin eine Stelle im Deutschen Ringer-Bund an - als Leistungssportreferentin. "Das ist so ein Name, der einem nichts sagt", so Rotter-Focken lachend. "Aber wir wissen alle, dass das deutsche Sportsystem sehr bürokratisch ist. Und hinter den ganzen Maßnahmen, Lehrgängen und Turnieren muss auch irgendwo das Geld herkommen und organisiert werden." Dafür müsse es Menschen hinter der Matte geben. "Und dazu gehöre ich jetzt." Außerdem steht Rotter-Focken dem deutschen Trainerteam beratend zur Seite und pflegt die Verbindungen des Verbands in die Sportpolitik.
Immer öfter ist die Olympiasiegerin nun auch wieder in der Ringerhalle zu finden. "Mein Kleiner ist nun schon etwas größer, das heißt ich kann jetzt auch immer öfter mal weg. Und er kommt auch super gerne mit," so Rotter-Focken. Mittlerweile sei sie mindestens einmal in der Woche in der Halle. "Da gehöre ich auch hin, da will ich sein". Es mache großen Spaß nun auch an der Basis zu arbeiten und Neueinsteigerinnen und -einsteiger schon im Kindesalter für den Sport zu begeistern.
Ringen als Schule des Lebens
Auch der eigene Nachwuchs zeige bereits einen regen Bewegungsdrang. Ob Sohn Ilian Georg auch einmal auf der Ringermatte aktiv wird, müsse man noch sehen. "Für mich ist wichtig, dass er in einen Verein geht, Sport macht, Freunde findet und die Werte lernt, die der Sport einem vermittelt", sagt die Olympiasiegerin. "Und wenn er Ringer werden will, dann darf er das gerne. Ich liebe diese Sportart und ich finde das ist eine sehr gute Schule fürs Leben." Eine Schule, von der Aline Rotter-Focken auch mehr als zwei Jahre nach dem goldenen Sommertag von Tokio noch profitiert.