Ruth Michel ist 95 Jahre alt und Zeitzeugin. Sie erlebt den 2. Weltkrieg als Kind und Jugendliche. Heute geht sie an Schulen und erzählt ihre Geschichte.
Vertreibung der Juden: Mit 6 Jahren flüchtet Ruth Michel und ihre Familie aus Deutschland
1935 flüchtet Ruths Familie von Königsberg, heute Kaliningrad, nach Mykulytschyn. Die Gemeinde gehört zu der Zeit zu Polen. Der Grund für die Flucht aus Deutschland: Ihr jüdischer Vater hat Angst vor dem NS-Regime. So wächst die damals 6-Jährige in einem Gebiet auf, in dem nicht ihre Muttersprache gesprochen wird: „Mit 6 Jahren kam ich in die polnische Volksschule, und nach Kriegsausbruch 1939 wurden wir russisch besetzt. Da kam ich ins russische Gymnasium und danach hat Hitler Russland überfallen.” Es gibt keine Schule mehr für Ruth und ihre Schwester. Die damals 13-Jährige muss Verantwortung übernehmen: „Ich bin plötzlich erwachsen gewesen." Ihr Vater wird durch die Geheime Staatspolizei (Gestapo), die Mykulytschyn einnimmt, eingeschränkt. Und so überträgt er an seine älteste Tochter die Verantwortung der Familie: „Dann habe ich mir als erstes überlegt: Wie kriegen wir was zu essen? Und ich habe rausgefunden, dass eine Gruppe jüdischer Menschen einmal die Woche in die Berge geht, um dort Hausrat gegen Lebensmittel einzutauschen.” Das macht die junge Ruth bis zu einem einschneidenden Erlebnis, dass das Leben der Familie ändert.
Der Holocaust und Ruth Michels Jahre während dem Zweiten Weltkrieg
Im Winter 1941 wird Ruths Vater vom Sägewerk, bei dem er arbeitet, von der Geheimen Staatspolizei des NS-Regimes mitgenommen. Nicht nur ihr Vater wird Opfer der Razzia, auch alle weiteren jüdischen Einwohner von Mykulytschyn: rund 200 Menschen, erzählt Ruth. „Drei Tage wurden sie eingesperrt und anschließend vor die Grube gestellt und erschossen. Und das ganz egal, wie alt sie waren.” Nach der Ermordung des Vaters möchte Ruths evangelische Mutter wieder zurück nach Königsberg. Sie flüchten zu dritt und treffen auf einen Mann: „Ich hatte immer ein gutes Gespür dafür, wem ich vertrauen kann und wem nicht. Ich sah auch keine weitere Möglichkeit und so habe ich mich dem Mann anvertraut.” Sie kommen in einem Zimmer unter und finden Arbeit in einem Sägewerk: „Zu dritt hatten wir zwei Suppen und zwei große Scheiben Brot, das war unsere Ernährung.” Nach Monaten der Flucht kommen sie in Königsberg bei ihrer Oma an. Diese erkennt sie erst nicht: „Meine Großmutter holte aus einem Topf Geld raus und wollte es meiner Mutter geben. Die hat gemeint, wir sind Bettler.” Das Kriegsende 1945 erlebt Ruth in Königsberg.
Schul- und Ausbildung während des Zweiten Weltkriegs
Nicht nur die Taten des NS-Regimes sind für Ruth einschneidend, auch dass sie durch die Kriegszeit keine richtige Schulausbildung erhält. Ruth erzählt: „Wir mussten ja leben. Ich musste Geld verdienen.” Deswegen arbeitet sie in unterschiedlichen Berufen. Ruth ist es trotzdem wichtig, eine Ausbildung zu machen und beschließt, sich beim Arbeitsamt nach einer passenden Stelle zu informieren: „Was kann ich werden mit 6 Jahren Schulausbildung? Sie haben mir dann gesagt: Also ich könnte entweder Kindergarten-Helferin, Schneider-Helferin oder Zahntechniker werden. Keine Ahnung, was Zahntechnik ist, aber da fehlte das Wort ‚Helferin’ und Helferin wollte ich nicht sein.” Der Beruf hat sie aber nie glücklich gemacht, erzählt sie: „So bin ich in diese doofe Zahntechnik gekommen, was ich nie freiwillig gemacht hätte. Ich habe es sehr gut gemacht. Ich habe beste Zeugnisse! Wenn ich etwas anfange, mache ich es richtig. Aber es hat mir nie Spaß gemacht.”
Zeitzeugin im Gespräch: Was macht Ruth Michel heute?
Ruth lebt in Leinfelden und sagt, dass sie gottgläubig ist und sonst nichts. Die 95-Jährige geht in Schulen und erzählt von ihren Erlebnissen: „Ich sage, dass man wachsam sein soll, dass so etwas nicht mehr passiert.” 2010 macht sie eine Reise in ihre Vergangenheit. Ruth geht zurück nach Mykulytschyn, der Ort des Verbrechens an ihrem Vater: „Ich habe das Grab zu meinem Grab gemacht. Ich zahle aus eigener Tasche 500 €, damit Leute dorthin geführt werden.”
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