Psychologie

Was war das Milgram-Experiment?

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Gábor Paál
Gábor Paál (Foto: SWR, Oliver Reuther)

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Das Milgram-Experiment räumte auf mit unseren klassischen Vorstellungen von Gut und Böse. Es hat gezeigt, dass selbst normale Menschen leicht ihre Hemmungen abstreifen, was die Anwendung von Gewalt betrifft. Dazu müssen sie noch nicht einmal angegriffen werden oder in einer außergewöhnlichen Zwangslage sein. Es genügt manchmal, wenn jemand freundlich, aber bestimmt den Ton angibt. Die Ergebnisse des Experiments erschienen 1963 in einer Studie unter dem Titel "Eine Verhaltensstudie über Gehorsam".

Warum waren die Verbrechen des Nationalsozialismus möglich?

"Der Anlass des Experiments waren die schrecklichen Vorkommnisse in Deutschland, wo viele Menschen im Nationalsozialismus unglückselige Verbrechen begangen haben. Man fragte sich: Hat das etwas zu tun mit der Persönlichkeit der Menschen? Sind die Deutschen viel schlechtere Menschen als andere Menschen? Oder hat es zum Teil auch mit der Situation zu tun?"

... erläutert die Mannheimer Sozialpsychologin Dagmar Stahlberg. 40 Versuchspersonen wurden von Stanley Milgram ausgewählt, normale Menschen. Ihnen wurde gesagt, es gehe um ein Lernexperiment. Und sie seien der Lehrer, der einer anderen Person – dem Schüler – etwas beibringen müsse. Es gehe um ein Gedächtnisexperiment mithilfe von Elektroschocks. Die Schüler sollten sich Wortpaare einprägen und dann wiedergeben. Wenn sie sie falsch wiedergeben, sollten sie mit Elektroschocks bestraft werden. Alles klar?

"Alright Teacher, will you take the test and be seated in front of the shock generator in the next room?"

60 Prozent der "Lehrer" verpassen Elektroschocks von bis zu 450 Volt

Mit jeder falschen Antwort wurde die Stromspannung um 15 Volt erhöht. Das heißt, sie wurde fiktiv erhöht. In Wirklichkeit war der Schüler nämlich gar kein Schüler, sondern ein Schauspieler, der sich so verhielt, wie man es nun mal tut, wenn man Elektroschocks verpasst bekommt:

Piep

75 Volt: kurzes Stöhnen.

Piep

120 Volt: Schreien

Piep

150 Volt: Bitte um Abbruch des Experiments.

Die sogenannten Lehrer beginnen, unsicher zu werden.

"I’m not gonna hurt. I’m not gonna be responsible for this."

Aber der Experimentator weist sie ruhig, jedoch bestimmt an, weiter zu machen.

"I’m responsible. Now, teacher, continue."

Piep

200 Volt: Die „Schüler“ schreien entsetzlich.

"Teacher, continue please, the experiment requires that you go on. Now go on, please."

Und dann:

Piep

300 Volt: Stille

Dagmar Stahlberg: "Das überraschende Ergebnis der Studie war, dass über 60 Prozent der Teilnehmer an diesem Experiment bereit waren, bis zu 450 Volt zu gehen und zu diesem Zeitpunkt zum Teil annehmen mussten, dass die andere Person gar nicht mehr am Leben war oder zumindest ohnmächtig war. Und viele der Versuchspersonen sagten dann auch: "Ja, ich hätte mir vorstellen können, dass der wirklich ohnmächtig war oder sogar Schlimmeres.""

Kaum Unterschiede zwischen Geschlechtern und Nationen

Es gab bei den Versuchen keine wesentlichen Unterschiede zwischen Frauen und Männern. Das Experiment wurde später in anderen Kulturen wiederholt. Mit überall ähnlichem Ergebnis. Auch 1970 in München. Hier war die Zahl derer, die dem Versuchsleiter bis zuletzt gehorchten, sogar noch etwas größer.

Dagmar Stahlberg: "Diese Experimente zeigen: Wir sind alle gefährdet. Das ist die schlechte Nachricht. Die gute Nachricht ist, dass es immer auch Menschen gegeben hat, die nein gesagt haben. Die sich nicht haben anstecken lassen, die keinen Gehorsam gezeigt haben. Die Herausforderung ist zu sehen, wie man Menschen in den richtigen Situationen dazu bringen kann, nein zu sagen und ihnen das entsprechende Selbstbewusstsein und aber auch die Ideen mitzugeben."

Variationen des Experiments

Es gab Unterschiede im Versuchsaufbau: Wenn der sogenannte "Schüler" unsichtbar hinter einer Wand saß, war die Bereitschaft, bis zum Äußersten zu gehen größer, als wenn er im gleichen Raum war.

Manchmal wurden auch zwei weitere angeblicher Co-Trainer hinzugezogen, die ab einem bestimmten Punkt Widerstand geleistet haben. Dies wiederum führte dazu, dass die Versuchsperson sich sehr viel stärker den Anweisungen des Versuchsleiters widersetzte. Nur noch 10 Prozent zogen dann die Qualen bis zu Ende durch.

Widerstand wächst, wenn andere sich beteiligen

Eine Erkenntnis, die heute genutzt wird, wenn es darum geht, Zivilcourage zu trainieren. Denn ob sexuelle Belästigung in der U-Bahn oder Übergriffe auf Ausländer – hier verhalten sich viele nicht anders als die Versuchspersonen bei Milgram.

Dagmar Stahlberg: "Alle sagen: "Da würde ich sofort was tun!" Aber wenn Sie die Leute wirklich in die Situation bringen, haben Sie oft die Situation, dass keiner irgendwas tut."

So lange, bis ein Erster kommt, der doch einschreitet. Dann wächst die Bereitschaft zum Widerstand. Auch das: wie bei Milgram.

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