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Wenn Minderjährige die Eltern pflegen – Zwischen Sorge und Überforderung

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Anja Schrum und Ernst-Ludwig von Aster
Ernst-Ludwig von Aster und Anja Schrum (Foto: SWR, Privat)
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Susanne Paluch

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"Mama hat mir erzählt, dass er eine Demenz hat", sagt der 16-Jährige Lukas. Zusammen mit seiner Mutter pflegt er seinen Vater: "Wenn er mit mir alleine ist, dann bringe ich ihn halt aufs Klo, mache ihm Essen, bringe ihn ins Bett und so weiter." Manchmal sei er schon genervt, aber er habe sich auch schon daran gewöhnt. 

Eine halbe Million Jugendliche pflegen Angehörige

Dass Jugendliche wie Lukas Angehörige pflegen, ist kein Einzelfall. Laut KiFam-Studie ("Die Situation von Kindern und Jugendlichen als pflegende Angehörige") aus dem Jahr 2018 übernehmen in Deutschland rund eine halbe Million Kinder und Jugendliche pflegerische Tätigkeiten – das sind im Schnitt ein bis zwei Betroffene pro Schulklasse. Eine hohe Zahl, und das, obwohl die Definition von Pflege in der Studie eng eingegrenzt war. 

Nur wer drei der sieben vorgegebenen Kategorien – Helfen im Haushalt, Medikation, Mobilisation, An- und Ausziehen, Ernährung, Körperpflege, Intimpflege – erfüllte, wurde als "pflegender Jugendlicher" eingestuft. 

Wie die jungen Pflegenden die Zusatzbelastung verkraften, versuchten die Wissenschaftler herauszufinden. Kinder und Jugendliche, die ihre Angehörigen pflegen, haben oft weniger Zeit für sich selbst, für die Schule, für Freunde. Sie berichten insgesamt von weniger Lebensqualität. Wie groß die psychische Belastung ist, wird aber manchmal erst nach Jahren sichtbar.

Wo junge Leute Unterstützung finden

Hinzu kommt, dass die Kinder und Jugendlichen im Verborgenen helfen und öffentlich kaum wahrgenommen werden. 

Doch gerade das wünschen sich die jungen Leute. Sie wollen Ernst genommen werden. Deshalb hat der Sozialarbeiter Benjamin Salzmann vom Verein "Pflege in Not" das Online-Angebot www.echt-unersetzlich.de speziell für diese Jugendlichen eingerichtet. Auch das Bundesfamilienministerium hat mit der Webseite www.Pausentaste.de eine Kontakt-Adresse bereitgestellt. Ein "niedrigschwelliges Angebot", nennt Salzmann das: "Es geht darum, erstmal zu signalisieren: Hier kannst Du Dich auskotzen, wir hören Dir zu, wir lesen das, was Du sagst. – Die stellen ihre eigenen Bedürfnisse zurück und brauchen trotzdem einen Ort, wo sie sich dann mal öffnen können. Das ist das Wichtigste. Dieser Prozess, sich damit auseinanderzusetzen, wie es einem geht, das zu gliedern und aufzuschreiben, ist schon irgendwie therapeutisch für viele Kinder und Jugendliche."

Auch der 16-Jährige Lukas fände mehr Kommunikation gut: "So ein Treffen von Leuten, die ihre Eltern pflegen, wäre, glaube ich, schon ganz sinnvoll, weil man sich dann austauschen kann. Auch mal ein bisschen lästern oder sich auch gegenseitig Tipps geben, was man besser machen kann, könnte sinnvoll sein."

Pflege kann die persönliche Entwicklung fördern

Doch Pflege muss nicht immer problematische Konsequenzen für junge Menschen haben, sondern sie können sie als durchaus positiv erleben. Der pflegebedürftigen Mutter eine Tasse Tee ans Bett zu bringen – kein Problem für ein fünfjähriges Kind.

Kind bringt Mutter Tee ans Bett (Foto: Colourbox, Model Foto: Colourbox.de -)
Seiner Mutter etwas Gutes zu tun und ihr zu helfen, stärkt das Selbstbewusstsein des Kindes.

Voraussetzung ist, dass das Kind oder der Jugendliche sich nicht überfordert oder in der Pflegesituation allein gelassen fühlt, sagt Professor Georg Romer, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Münster. Dann überwiegt oft das Gefühl: "Ich kann etwas tun, was Mama hilft, und damit bin ich nicht ohnmächtig der Situation ausgeliefert."

Das bestätigen junge Pflegende. Sie sagen: Für mich ist das ein Reifeprozess. Ich fühle mich gut aufs Leben vorbereitet. Ich fühle mich kompetent, ich fühle mich sozialkompetent in vielen Bereichen.

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