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Warten – Warum es nervt, aber wichtig ist

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Bernd Lechler
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Ulrike Barwanietz
Candy Sauer

Sind wir dabei, das Warten zu verlernen? Wurde früher mehr gewartet? Kann Warten wirklich krank machen? Und wie viel Macht hat das Wartenlassen?

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Warten kann mühsam sein. Und wir müssen es tatsächlich alle erst lernen: Kleine Kinder können es noch kaum. Die fragen bekanntlich auf dem Weg in den Urlaub schon nach ein paar Minuten: "Wann sind wir da?"

Marshmallow-Experiment: Kinder, die warten können, sind später erfolgreicher

Berühmt ist das "Marshmallow-Experiment" des US-amerikanischen Psychologen Walter Mischel, der ab Ende der 1960er-Jahre Kindern ein Marshmallow vorsetzte und sie dann einige Minuten mit der Süßigkeit allein ließ mit dem Versprechen, sie würden ein zweites bekommen, wenn sie das erste nicht vorher schon aufessen.

Längst nicht alle Kinder konnten so lange warten. Diejenigen, die es konnten, die also den sogenannten Belohnungsaufschub aushielten, erwiesen sich, zumindest gemäß Walter Mischels Beobachtungen, später im Leben als die erfolgreicheren.

Sind wir dabei, das Warten zu verlernen?

Der Frankfurter Journalist und Autor Timo Reuter nennt das Warten eine "verlernte Kunst". So der Untertitel des Buchs, das er über das "Warten" geschrieben hat – angestoßen von seinen Erlebnissen bei Reisen auf anderen Kontinenten, wo man regelmäßig Zeit mit Einheimischen an irgendwelchen Haltestellen verbringt.

Ich stehe dann dort und bin eigentlich der einzige Idiot, der sich ärgert. Und das bringt mich natürlich auch ins Grübeln. Immer wieder. Und immer wieder stoße ich an diese Situation, dass ich – wenn ich auch gerade jetzt hier aus dem Leben in Deutschland komme – wieder der Einzige bin, der irgendwie sich darüber aufregt und fragt: Ja wann kommt denn der Bus!? Und dann ist die Antwort: Na, der kommt schon …

Gäbe es ohne Uhren auch kein Warten? (Installation von Klaus Rinke in Düsseldorf)
Gäbe es ohne Uhren auch kein Warten? (Installation von Klaus Rinke in Düsseldorf)

Der Soziologe Andreas Göttlich, Professor an der Uni Konstanz, hat zum Thema "Warten" geforscht. Nach Göttlich hätten wir in der westlichen Moderne gelernt, die Zeit als Ressource zu begreifen, die man effizient nutzen müsse.

Die Geschichte der Menschheit geht mit Uhren einher, mit Instrumenten der Zeitmessung, oder vielleicht würden wir eher sagen Zeitschätzung. Die sind sehr viel genauer geworden, was auf der einen Seite den Vorteil hat, dass wir Wartezeit unter Umständen vermeiden können, weil wir eben Zeitabläufe besser – bis auf die Minute oder vielleicht sogar Sekunde hin – messen können. Das konnten Menschen früher nicht.

Und da sähe eben Warten sehr schnell als ungenutzte, schlecht genutzte Zeit aus, so Göttlich. Eine Art negative Zeit also, die man totschlagen muss.

Alles muss sofort passieren

Professor Peter Vorderer, Medienpsychologe an der Uni Mannheim, erforscht die Nutzung und Wirkung von Medien und auch die im Lauf der letzten Jahrzehnte rasant beschleunigte Taktung von Inhalten jeglicher Art.

Ich kann mich noch gut an eine Zeit erinnern, wenn Sie da eine E-Mail innerhalb von ein paar Tagen beantwortet haben, war das auch in Ordnung. Wenn Sie das heute tun, dann bekommen sie auf irgendeinem anderen Kanal die Nachricht, ob denn die Botschaft nicht angekommen sei. Also wir haben uns auch da, wenn Sie so wollen, daran gewöhnt, dass Kommunikation sofort passieren muss.

Mit neuen und schnelleren kommunikativen Möglichkeiten wachsen auch die Erwartungen daran. Und oft zeigt sich dann, dass wir meist keine Zeit gewinnen dadurch, dass wir schneller geworden sind.

Tipps gegen toxisches Warten

Die Psychologin Kate Sweeny, Professorin an der University of California in Riverside, erforscht, wie wir mit Unsicherheit beim Warten umgehen. Dafür sieht sie sich Menschen in Wartesituationen an: beim Warten auf eine mögliche Krebsdiagnose, Klausuren-Ergebnisse und die Entscheidung nach dem Vorstellungsgespräch.

Toxisch sei, dass man einerseits nicht wisse, was kommt, und andererseits keinen Einfluss darauf nehmen könne, so die Psychologin. Und dann beginne man sich Sorgen zu machen. Kate Sweeny empfiehlt, sich in solch belastenden Wartesituationen mit etwas zu beschäftigen, was einen komplett in Anspruch nimmt und idealerweise in einen Flow-Zustand bringt – ein aktiveres Tun also, als sich nur mit dem Smartphone abzulenken. Auch Meditieren kann helfen. Oder man soll etwas betreiben, das Kate Sweeney präventive Nutzenfindung nennt. Dafür stellt man sich den schlimmsten Ausgang vor und versucht, trotzdem etwas Gutes darin zu finden.

Warten kann krank machen

Ohne Sicherheit beim Warten besteht die Gefahr, dass die unsichere Wartezeit krank macht. Das Risiko, eine Depression zu entwickeln, ist beispielsweise bei Menschen erhöht, die sich einer Kinderwunsch-Behandlung unterziehen und darauf warten müssen, ob die künstliche Befruchtung geklappt hat und ob sie vielleicht bei weiteren Versuchen klappen wird.

Wartezeichen und Wartezeiten sollen uns das Warten erleichtern

Auch mit dem ganz alltäglichen Warten kommen wir besser klar, wenn wir wissen, wie lange es dauern wird. Daher begegnen wir heute überall sogenannten "Wartezeichen" wie der roten Ampel, dem Ladebalken beim PC, die Durchsage am Bahnsteig, die uns sagt, wie lange wir noch auf den Zug warten müssen; im Fernsehen der Countdown nach dem Werbeblock, der die Sekunden bis zur nächsten Sendung herunterzählt. Alles kleine Hilfen für den modernen Menschen der Gegenwart mit seinem besonders kurzen Geduldsfaden.

Verspätung auf Anzeige der Bahn: Wartezeiten können den modernen Menschen beruhigen, sind jedoch nicht immer erfolgreich
Wartezeiten können den modernen Menschen beruhigen, sind jedoch nicht immer erfolgreich

Es steckt auch ein emotionaler Trick hinter der Angabe von Wartezeiten. Wir freuen uns nämlich, wenn der Zug, die Lieferung oder das Gepäck pünktlich kommt oder sogar noch früher, obwohl diese "Pünktlichkeit" überhaupt erst durch die Zeitanzeige entsteht. Und wir erinnern uns dadurch positiver an diese Wartezeit, selbst wenn sie unangemessen lang gedauert haben sollte.

Wartenlassen bedeutet Macht

Für die Soziologie sei das Thema Warten vor allem wegen des Macht-Aspekts interessant und deswegen überhaupt zum Forschungsgegenstand geworden, sagt Andreas Göttlich. Macht lasse sich verfestigen oder zumindest demonstrieren, indem man andere warten ließe. Überall dort, wo eine Hierarchie besteht. Diese Erfahrung hat auch Timo Reuter gemacht:

Gerade dieses existenzielle Warten vor dem Arbeitsamt, vor den Tafeln, vor der Ausländerbehörde wird eben meistens denen zugemutet, die eh schon marginalisiert sind. Wohingegen wer Geld hat, kann sich oft, zum Beispiel am Premium-Schalter am Flughafen, auch vom Warten freikaufen.

Warten als Schicksal. Als Ausdruck von Machtlosigkeit. Als Zumutung für die Unterprivilegierten. Vielleicht – denn wie jede Emotion bringt manchmal auch die Ungeduld Großes hervor – die Revolte im Großen, Politischen und den Widerspruch, im Kleinen, Privaten.

Plädoyer für eine verlernte Kunst Warten macht glücklich

Wir haben in unserem Leben die Erwartung, dass alles sofort und ohne Probleme machbar ist. Höchste Zeit, umzudenken, meint der Journalist und Philosoph Timo Reuter   

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