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Homosexualität in der Bundeswehr – Geschichte einer Diskriminierung

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AUTOR/IN
Dieter Wulf

Lange Zeit gerieten homosexuelle Soldaten der Bundeswehr nach einem Outing aufs berufliche Abstellgleis. Ein Entschädigungsgesetz soll die jahrzehntelange Diskriminierung und das Leid anerkennen.

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Diskriminierte Homosexuellen bei der Bundeswehr: genaue Zahl ist unklar

Wie viele Soldaten über die Jahrzehnte diskriminiert wurden, darüber gibt es keine gesicherten Zahlen. Die Bundeswehr geht grob von hunderten, vielleicht tausend Fällen aus. Genau weiß das niemand.

"Wir dürfen nicht drum herumreden. In der Bundeswehr wurden seit ihrer Gründung 1955 jahrzehntelang homosexuelle Soldaten und später auch Soldatinnen systematisch diskriminiert."

So Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer im Herbst 2020 bei einer Veranstaltung in ihrem Ministerium. Sie hat dort eine Studie mit dem Titel „Tabu und Toleranz“ vorgestellt. Darin wurde erstmals beleuchtet, wie systematisch die Bundeswehr über viele Jahre hinweg Homosexuelle diskriminierte.

Restriktionen bis zur Reform des Paragrafen 175 im Jahr 1969

Klaus Storkmann, Oberstleutnant und Militärhistoriker, hat die wissenschaftliche Aufarbeitung der Diskriminierung geleitet. In den Dokumenten findet er Strafurteile, Disziplinarmaßnahmen, Urteile zu Entlassungen oder Versetzungen. Er merkte schnell, dass ein reines Aktenstudium nicht ausreicht. Um wirklich verstehen zu können, wie in der Truppe gedacht und gehandelt wurde, hat Storkmann sich von etwa 60 Zeitzeugen erzählen lassen, was in den Akten nicht zu finden war.

Homosexualität galt juristisch als Dienstuntauglichkeit

Bis 1969 galt eine homosexuelle Orientierung als Ausmusterungsgrund, juristisch ausgedrückt, war es Dienstuntauglichkeit. Sich offiziell zu seiner Homosexualität zu bekennen, war praktisch unmöglich. Diese Diskriminierung gab es nicht nur in der Bundeswehr. Auch verbeamtete Lehrer oder Briefträger wurden entlassen, wenn ihre homosexuelle Neigung bekannt wurde.

Bundesverteidigungsminister Manfred Wörner (CDU) 1984 während einer Anhörung vor dem Untersuchungsausschuss zur Kießling-Affäre in Bonn. Der stellvertretenden NATO-Oberbefehlshaber Kießling verlor aufgrund von Behauptungen seine führende Stellung (Foto: IMAGO, IMAGO / Sommer)
Bundesverteidigungsminister Manfred Wörner (CDU) 1984 während einer Anhörung vor dem Untersuchungsausschuss zur Kießling-Affäre in Bonn. Der stellvertretenden NATO-Oberbefehlshaber Kießling verlor aufgrund von Behauptungen seine führende Stellung

Das ändert sich 1969 mit der Reform des Paragrafen 175, welcher bis dato die „widernatürliche Unzucht“ zwischen Männern unter Strafe stellte. Einvernehmlicher Sex unter volljährigen Männern war nun nicht mehr strafbar – zumindest im zivilen Leben. Doch im Militär schufen die Bundeswehrjuristen ihr eigenes Recht. Sogar außerhalb der Kaserne, denn sobald zwei Soldaten betroffen waren, konstruierte man einen sogenannten dienstlichen Bezug, erklärt Militärhistoriker Klaus Storkmann.

Eignung zur Führung wurde homosexuellen Menschen lange abgesprochen

Ansonsten galt ab 1970 bis zum Jahr 2000: Wehrpflicht ja, Karriere nein. Homosexualität war zwar kein Ausmusterungsgrund mehr, aber wenn bekannt wurde, dass ein Zeit- oder Berufssoldat schwul ist, wurde er aufs berufliche Abstellgleis geschoben. Die Eignung zum Vorgesetzten wurde abgesprochen, pauschal und ausdrücklich ohne Bewertung des Einzelfalls. Ausschlaggebend dafür war ein antizipierter, also ein angenommener Autoritätsverlust, des als homosexuell anerkannten Vorgesetzten, so Klaus Storkmann.

Das absurde Verhalten der Bundeswehr zum Thema Homosexualität gipfelte 1983/84 in der sogenannten Kießling-Affäre. Innerhalb des Militärischen Abschirmdienstes kursierte das Gerücht, dass Günter Kießling, vier Sterne-General und stellvertretender NATO-Oberbefehlshaber, homosexuell sei. Man habe ihn in einschlägigen Bars gesehen, hieß es. Der General versicherte Verteidigungsminister Manfred Wörner, dass dem nicht so sei, was sich Jahre später auch bewahrheitete. Es nützte ihm nichts. Kießling musste gehen und damit war ein klares und offizielles Zeichen für alle anderen Fälle gesetzt.

Noch bis 2000 beharrte das deutsche Militär auf diskriminierenden Regeln

Im Frühjahr 2000 klagte ein Leutnant der Luftwaffe und reichte eine Verfassungsbeschwerde ein. Er hatte aufgrund seiner Homosexualität seinen Posten als Vorgesetzter verloren. Das Bundesverfassungsgericht ließ durch Fragen, die es an die Bundesregierung geschickt hatte, durchblicken, dass diesem Leutnant Recht gegeben werde. Die Militärführung beharrte jedoch weiterhin starr auf ihren diskriminierenden Regeln, fand Klaus Storkmann in seiner Forschung heraus.

Wehrpass von 1966 mit Erkennungsmarke: In einem solchen Wehrpass wurde früher die Laufbahn eines Soldaten festgehalten, die diskriminierenden gesetzlichen Regeln im deutschen Militär verloren bis in die 2000er Jahre nicht an Gültigkeit (Foto: IMAGO, IMAGO / imagebroker)
Wehrpass von 1966 mit Erkennungsmarke: In einem solchen Wehrpass wurde früher die Laufbahn eines Soldaten festgehalten, die diskriminierenden gesetzlichen Regeln im deutschen Militär verloren bis in die 2000er Jahre nicht an Gültigkeit

Hinter den Kulissen hatte der damalige Verteidigungsminister Rudolf Scharping monatelang versucht, die militärische Führung davon zu überzeugen, ihr diskriminierendes Verhalten zu beenden. Doch die Militärs blieben bis zum Schluss uneinsichtig. Am Ende stellte sich der Verteidigungsminister gegen die Generäle. In einer Rede vor dem Bundestag erklärte Scharping Ende März 2000 die sofortige völlige Gleichstellung homosexueller Soldaten.

Das „Sexseminar bei der Bundeswehr“ in den Medien

Am 31. Januar 2017 hatte Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen zu einem Workshop mit dem Titel “Umgang mit sexueller Identität und Orientierung“ geladen. In den Schlagzeilen der Boulevardmedien hörte sich das ganz anders an, erinnert sich Alexander Schüttpelz. Aber nicht nur die Bild Zeitung machte sich lustig. Auch bei SWR3 hieß der Gag des Tages am 12. Januar 2017 „Radio volles Rohr, Sexseminar bei der Bundeswehr“.

Als die Zeugnisse der Diskriminierung homosexueller Soldaten im Rahmen der Studie „Tabu und Toleranz“ 2020 bekannt wurden, entschuldigte sich Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer schließlich nicht nur, sondern stellte auch ein Entschädigungsgesetz in Aussicht. Der Bundestag hat ein solches Gesetz zur Rehabilitierung und Entschädigung im Mai 2021 beschlossen. Kramp-Karrenbauer sprach sich auch für eine finanzielle Entschädigung aus.

Nur wenige Betroffene stellten Antrag auf Entschädigung bei Reform des § 175

Jeder, der glaubhaft nachweisen könne, dass er bei seinem Militärdienst diskriminiert wurde, soll eine pauschale Entschädigung von 3.000 Euro beantragen können. Und zwar frühere Bundeswehrangehörige genauso wie ehemalige Soldaten der DDR-Volksarmee. Doch Sven Bäring, Vorsitzender von Queer-BW, spricht sich stattdessen für eine Einzelfallprüfung der tatsächlichen Schäden aus. Dies betrifft beispielsweise Fälle, bei denen trotz geleistetem Dienst alle Rentenzahlungen aberkannt wurden.

Und längst nicht jeder, der den Anspruch darauf hätte, stellt auch einen Antrag auf Rehabilitierung und Entschädigung. Das zeigte sich bereits beim vergleichbaren Gesetz zur Entschädigung der Opfer des Paragrafen 175, das 2017 verabschiedet wurde. Man vermutet, dass etwa 5.000 Männer einen Antrag hätten stellen können. Außerdem sei die Entschädigung für den Paragrafen 175 schlicht zu spät gekommen, findet Militärhistoriker Klaus Storkmann.

Einsicht und Entschuldigung wichtig für Betroffene

Für den heute 78-jährigen Dierk Koch sind die Worte der Ministerin das Entscheidende. Er wollte eigentlich Berufssoldat werden, Kapitän wie sein Vater. Doch das war mit einem Schlag vorbei als seine Liebesbeziehung mit einem Kollegen bei der Marine bekannt wurde. Sein Rauswurf aus der Bundeswehr war kein Einzelfall. Heute sitzt der 78-Jährige neben Kramp-Karrenbauer auf dem Podium, als sie öffentlich um Entschuldigung bittet – und antwortet ihr:

"Das ist sehr viel mehr wert als eine finanzielle Entschädigung. Natürlich lehne ich die nicht ab, aber dieses Symbolische, dass es etwas Falsches war, was geschehen ist und dass mein Leben nicht falsch war. Das ist so viel wichtiger."

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