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Gewalt gegen Pflege- und Einsatzkräfte – Helfer als Opfer

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Anja Schrum und Ernst-Ludwig von Aster
Ernst-Ludwig von Aster und Anja Schrum (Foto: SWR, Privat)
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Ulrike Barwanietz / Candy Sauer

Jede dritte Klinik setzt Sicherheitspersonal ein, um Mitarbeiter vor Attacken zu schützen. Auch Polizei, Rettungssanitäterinnen und Feuerwehr klagen über zunehmende Angriffe. Was treibt Menschen dazu, Helfer anzugreifen? Und wie kann man diese besser schützen?

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Berlin, Universitätsklinikum Charité. Dr. Tobias Lindner kommt aus der Notaufnahme. Maske, blauer Kittel, Krankenhaus-Clogs. Der stellvertretende Leiter des Bereichs Notfall- und Akutmedizin trägt in der Brusttasche ein DECT-Telefon. Es sorgt für Sicherheit in der Notaufnahme.

Alle, die in der Notaufnahme arbeiten, sind mit einem derartigen Telefon ausgestattet. Damit sie unauffällig Alarm auslösen können. Das ist Teil eines Deeskalations-Konzepts, das die Charité vor acht Jahren entwickelt hat. Der Ton in der Notaufnahme sei über die Jahre rauer geworden. Deshalb will die Charité gegensteuern.

Pflegende aus Rettungsstellen: Ausbildung zum Deeskalationstrainer

Für die Studie „Gewalt gegen Rettungskräfte im Einsatz“ der Universität Bochum aus dem Jahr 2012 wurden 2.000 Rettungskräfte in Nordrhein-Westfalen befragt. 80 Prozent der befragten Rettungskräfte erlebten Beleidigungen, 68 Prozent Behinderungen medizinischer Maßnahmen, 27 Prozent Anwendung von Gewalt. Und 1,7 Prozent Anwendung von Waffengewalt.

Pflegende aus Rettungsstellen, Ärztinnen und Ärzte wie Tobias Lindner werden darum zu Deeskalationstrainern ausgebildet und geben ihr Wissen weiter. Am Anfang steht für alle Mitarbeiterinnen ein Kommunikationstraining. Es soll helfen,

  • den eigenen Anteil am Geschehen zu reflektieren
  • sich der eigenen Rolle bewusst zu werden und
  • den Patienten und die Patientin in ihren Rollen zu verstehen.
Ein Plakat mit der Aufschrift "Bei Gewalt hört für uns der Spaß auf" hängt in der Notaufnahme im Klinikum Nürnberg (Foto: dpa Bildfunk, Daniel Karmann)
Ein Plakat mit der Aufschrift "Bei Gewalt hört für uns der Spaß auf" hängt in der Notaufnahme im Klinikum Nürnberg

Der Patient hat Angst, fürchtet um seine Gesundheit, fühlt sich oft hilflos und ausgeliefert, während das Krankenhauspersonal den Ablauf bestimmt. Ein asymmetrisches Machtverhältnis, das schnell in Frustration und Wut umschlagen kann. Um dem vorzubeugen, hängen mehrsprachige Info-Tafeln in den Warteräumen. Sie erläutern, dass Patientinnen hier nach ihrer medizinischen Bedürftigkeit behandelt werden. Das wissen längst nicht alle Hilfesuchenden.

Zugang zur Notaufnahme der Charité wird aus Sicherheitsgründen kontrolliert

Informieren, erklären, kommunizieren, die eigene Lautstärke an der des Patienten orientieren. Verständnisvoll, aber bestimmt argumentieren. Und sich nicht auf endlose Diskussionen einlassen. Das sei das eine. Das andere sei die Risikominimierung am Arbeitsplatz, wo immer es geht.

Auch der Zugang zur Notaufnahme der Charité wird mittlerweile aus Sicherheitsgründen kontrolliert. Barrieren wie etwa Türen mit Summern können brenzlige Situationen von vornherein räumlich begrenzen. Früher sollte eine Notaufnahme immer offen sein, so Lindner. Heute muss sie als abgesicherter Rückzugsraum funktionieren, auch als räumliches Konzept.

Bei einer Evaluation des Charité-Konzeptes gab die große Mehrheit der Mitarbeiterinnen an, die psychologisch-kommunikative Deeskalations-Strategien erfolgreich im Arbeitsalltag einzusetzen und teilweise auch privat. Allerdings kritisierten fast alle Befragten, dass es im baulichen Bereich bisher kaum Verbesserungen gegeben hätte.

Notaufnahme als Hausarztersatz führt zu Überlastung

Die Überlastung und Überfüllung von Notaufnahmen macht den Beschäftigten ebenfalls Sorge. Da in Deutschland der ambulante vertragsärztliche Bereich außerhalb der Sprechstundenzeiten kaum noch erreichbar ist, wird die Notaufnahme öfter als Hausarztersatz aufgesucht.

Ein Plakat "Hände weg! Wir sind Eure Rettung" wird 2018 von einem Mitglied der Flughafenfeuerwehr Frankfurt auf einer Demonstration gehalten (Foto: dpa Bildfunk, Andreas Arnold)
Ein Plakat "Hände weg! Wir sind Eure Rettung" wird 2018 von einem Mitglied der Flughafenfeuerwehr Frankfurt auf einer Demonstration gehalten

In der Bergheimer Rettungswache projiziert Deeskalationstrainer Swen Körner eine Aussage an die Wand. „Reaktanz freie Kommunikation“ steht jetzt auf dem Programm der elf Teilnehmenden. Das bedeutet, sie sollen mit dem Hilfesuchenden reden, ohne zu provozieren. Widerstände vermeiden. Denn auch in der Kommunikation der Sanitäterinnen kann Gewalt mitschwingen, dafür will Körner sensibilisieren.

Was könnte man zum Beispiel sagen, wenn jemand versucht, in den Rettungswagen einzudringen? Körner blickt in die Runde. Er wirbt für den Perspektivwechsel: vom „Für dich geht’s hier nicht rein!“ zum „Würden Sie bitte draußen warten?“.

Mehr tätliche Angriffe und verbale Drohungen gegen Polizei

Um die Gewalt gegen Einsatzkräfte einzudämmen, fordert Polizeigewerkschaftler Alexander Klimmey stattdessen Staatsanwältinnen und Richter auf, den gesetzlichen Rahmen auszuschöpfen. Seit einer Gesetzesverschärfung im Mai 2017 können Angriffe auf Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienste mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden.

Große Hoffnungen setzt das GdP-Mitglied Klimmey auch auf die Ausstattung der Polizei mit Bodycams. Allerdings zeigt die polizeiliche Kriminalstatistik andere Zahlen. Sie zählt weniger Körperverletzungen von Einsatzkräften. Im gleichen Zeitraum stiegen jedoch die Meldungen über tätliche Angriffe und verbale Bedrohungen.

Polizei bei Nachteinsatz im Stuttgarter Schlosspark (Foto: IMAGO, Max Kovalenko via www.imago-images.de)
Polizei bei Nachteinsatz im Stuttgarter Schlosspark

Angststörungen, Depressionen, Sucht: Folge von Gewalterlebnissen im Job

Prof. Sven Steffes-Holländer ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Als Chefarzt der Heiligenfeld Klinik Berlin behandelt er seit 15 Jahren Polizeibeamtinnen und Feuerwehrleute. Angststörungen, Depressionen und Suchterkrankungen können die Folge von Gewalterlebnissen im Job sein.

Feuerwehrleute und Sanitäterinnen sind meist viel unvorbereiteter auf verbale oder gewalttätige Übergriffe als etwa Polizisten, so Steffes-Holländers Erfahrung. Wichtig sei, die psychische Belastung, die die verschiedenen Berufe mit sich bringen, als Realität zu akzeptieren. Und über das Erlebte zu sprechen, statt es zu verschweigen.

Dazu gehört dann auch, dass die Vorfälle auf einfache Art und Weise gemeldet werden können und in Statistiken einfließen. Soziale Kompetenzen stärken, Kommunikations- und Deeskalationstraining nicht nur für Polizistinnen, sondern auch für Feuerleute, Rettungssanitäter, Pflegepersonal – das könnte dem einzelnen Helfer, der einzelnen Helferin helfen. Aber auch der Gesellschaft müsse klar gemacht werden, was verbale oder gewalttätige Angriffe bei den Betroffenen auslösen können.

Leben Kranke Schwestern: Ein Beruf mit Schattenseiten

Auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie wurden Krankenpfleger*innen als systemrelevant anerkannt. Wie sieht ihr Arbeitsalltag wirklich aus? Wie sind ihre Arbeitsbedingungen?

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