Integration

Die wilden Streiks von 1973 – Wie "Gastarbeiter" für faire Behandlung kämpften

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Jennifer Stange
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Marie Sinde
Candy Sauer

In “wilden Streiks” protestierten im Sommer 1973 ausländische Arbeitskräfte für bessere Arbeitsbedingungen und gleiche Bezahlung für alle – unabhängig von der Herkunft. Doch weder die Gewerkschaften noch die deutschen Kolleginnen und Kollegen zeigten Solidarität für die Forderungen der "Gastarbeiter".

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Wer waren “die Gastarbeiter” und woher kamen sie?

Türken, Spanierinnen, Frauen und Männer aus dem ehemaligen Jugoslawien, Italien und Griechenland: Die Migrationsforschung geht davon aus, dass ihre Arbeitskraft von den 1960ern bis Anfang der 1970er das Wirtschaftswachstum verlängerte, den Aufbau der Sozialsysteme in der Bundesrepublik mitfinanzierte und rund zwei Millionen Deutschen den sozialen Aufstieg von Arbeiter- in Angestelltenpositionen ermöglichte.

Was ist ein “wilder Streik”?

"Wilde Streiks" meint Streiks, die nicht durch das Tarifrecht gedeckt sind – das gibt formal nur den traditionellen Gewerkschaften im Rahmen von Tarif-Auseinandersetzungen das Recht, zum Streik aufzurufen. Alles andere gilt als illegal.

Streik bei Ford als Höhepunkt migrantischer Arbeiterbewegungen

Im Werk des Autoherstellers Ford in Köln standen im Spätsommer 1973 die Montagebänder eine Woche lang still; mehrere Tausend Arbeiter hielten das Ford-Gelände über Tage besetzt. Kollegen aus der Türkei, aus Italien und dem ehemaligen Jugoslawien streikten. Ihr Streik wurde gewaltsam beendet. Es war nicht der einzige Streik sogenannter "Gastarbeiter" im Sommer 1973. Er markiert aber den Höhepunkt einer von migrantischen Arbeiterinnen und Arbeitern geprägten Bewegung in der Bundesrepublik.

Wie viele Menschen streikten “wild”?

Laut den Recherchen des Historikers Dr. Peter Birke beteiligten sich in der Zeit von 1950 bis 1973 über 250.000 Menschen in mehr als 300 Betrieben, vor allem im Bergbau und der Stahl- und Metallindustrie, an illegalen Arbeitskämpfen. Diese Kämpfe zeigen auch, wie tief die Gräben zwischen deutscher Stammbelegschaft und den im Ausland angeworbenen Arbeitskräften sind. (1)

“Es gibt hunderte von solchen wilden Streiks. Und das Ende dieser Welle, wenn man die jetzt beschreibt von ’55 bis ’73, hängt auch damit zusammen, dass es eine massive Repression gibt.”

Was waren die Ursachen für die Streiks?

Einer der Gründe, warum die Arbeiter in Streik traten, war die Akkordarbeit: acht Stunden im fünfzehn Sekunden-Takt arbeiten, immer die gleiche Bewegung, ein und dieselbe Körperhaltung. In der berüchtigten Y-Halle der Ford Werke in Köln, wo die Arbeit am schwersten war, arbeiteten 1973 überwiegend Migranten aus der Türkei, aus Italien und dem ehemaligen Jugoslawien.

Eine weitere Ursache der wilden Streiks: Die meisten migrantischen Arbeiter bei Ford und anderswo fühlten sich durch Gewerkschaft und Betriebsrat nicht vertreten. Während des Streiks 1973 wählten sie ihre eigene Streikleitung, die überwiegend aus Türken, Italienern und Jugoslawen bestand; nur zwei Deutsche waren dabei.  

Was war der Anlass für die Streiks?

Auslöser der spontanen Streiks ausländischer Arbeiterinnen und Arbeiter, nicht nur bei Ford, sondern auch in anderen Betrieben, war 1973 der Bruch mit einem Gewohnheitsrecht: Es war üblich, dass sie den einzigen Urlaub im Jahr, den Sommerurlaub zu Hause, unbezahlt verlängern konnten. Angesichts der zum Teil tagelangen Reisen ins heimatliche Spanien, Jugoslawien und nicht zuletzt in die Türkei kam das den Arbeitern entgegen. Doch das war plötzlich vorbei. Wer nun zu spät aus dem Urlaub kam, musste mit seiner Entlassung rechnen.

Der Historiker Peter Birke nennt als Grund für die geänderte Regelung, dass Ford die Arbeitskräfte nicht mehr brauchte und 1974 viele Arbeiter entlassen wollte.

"Die sogenannten Gastarbeiter werden als das gesehen, als das sie auch bezeichnet werden, nämlich als Arbeitskraft-Reserve. So, und jetzt kriegt er den zusätzlichen Urlaub nicht mehr, Punkt. Da verbindet sich Krise und anti-migrantische Rhetorik.“

Andere Betriebe, wie der Autozulieferer Hella in Lippstadt und Paderborn, gewährten ihren deutschen Fachkräften 1973 eine Teuerungszulage von 15 Pfennig pro Stunde. Die “Gastarbeiter” gingen leer aus. Einige Spanier verließ ihren Arbeitsplatz und protestierten in der Fabrik. Vor allem die ausländischen Beschäftigten liefen mit. Sie forderten für alle 50 Pfennig mehr pro Stunde.

"Einer der entscheidenden Momente dieser wilden Streiks war, dass man Forderungen stellen musste, bei denen alle mitmachten. [...] Und die prägen in Deutschland zumindest die Streiks dieser Zeit."

Was waren die Forderungen der Streikenden bei Ford?

"Eine Mark mehr" fordern die Streikenden bei Ford in Köln im August 1973. Dazu eine niedrigere Bandgeschwindigkeit, zweimal zehn Minuten Pause für die Bandarbeiter und eine bezahlte Waschpause sowie die Rücknahme von Kündigungen. Der Aufstand beginnt an einem Freitag, nachdem etwa 300 türkische Arbeiter entlassen worden waren.

Eine Gruppe überwiegend türkischer Arbeiter des Automobilherstellers Ford befindet sich im August 1973 im wilden Streik im Kölner Werk und verkündet an Tor 3 über ein Megaphon ihre Forderungen. Der erste Arbeitskampf in Deutschland, der hauptsächlich von Gastarbeitern getragen wurde, ging mit einer Betriebsbesetzung einher. (Foto: picture-alliance / Reportdienste, picture alliance / Wilhelm Leuschner | Wilhelm Leuschner)
Eine Gruppe überwiegend türkischer Arbeiter des Automobilherstellers Ford befindet sich im August 1973 im wilden Streik im Kölner Werk und verkündet an Tor 3 über ein Megaphon ihre Forderungen. Der erste Arbeitskampf in Deutschland, der hauptsächlich von Gastarbeitern getragen wurde, ging mit einer Betriebsbesetzung einher.

Verlauf des Streiks bei Ford

Die Streikleitung wollte direkte Verhandlungen mit der Geschäftsleitung. Die lehnte ab und ließ die Polizei die Angelegenheit klarstellen. Betriebsrat und Gewerkschaft wollten und konnten diesen Streik nicht unterstützten – aus formalen, aber auch politischen Gründen.

Tausende Streikende hielten das Ford-Gelände über Tage besetzt. Sie kochten und tanzten unter freiem Himmel und schliefen auf Matratzenlagern in den Werkhallen – für gleiche Löhne, bessere Arbeitsbedingungen und mehr Respekt. Die deutsche Belegschaft solidarisiert sich nicht mit den ausländischen streikenden Kollegen.

Ölkrise: Vorbehalte gegen “Gastarbeiter“ werden sichtbar

Das "Wirtschaftswunder" endete  1973 mit der Ölpreiskrise. Begleitet wurde die Krise von einer rasanten Inflation, durch die sich der Preis einer Kartoffel beispielsweise im Vergleich zum Vorjahr knapp verdoppelte. Ökonomische Prognosen verdüsterten sich und die Sorge angesichts steigender Arbeitslosenzahlen wuchs. In der Bundesrepublik machte sich die Auffassung breit, dass die Arbeitskräfte aus dem Ausland gehen sollen, wenn sie nicht mehr gebraucht werden.

Für Teile der bundesrepublikanischen Gesellschaft fanden in Form der wilden Streiks zwei Albträume unheilvoll zusammen: Ausländer begehrten auf und verbündeten sich mit Linksradikalen. Polizeibehörden und Geheimdienst beobachteten damals vermehrt Aktivitäten italienischer, spanischer und griechischer Gruppierungen, die in und um deutsche Industriebetriebe agitierten.

Der ehemalige Ford-Betriebsrat Wilfried Kuckelkorn meint, dass das, was heute als Rassismus benannt wird und damals in der Bundesrepublik nicht mal einen Namen hatte, vor allem in der Presse stattfand. Und es stimmt: Die Boulevard-Presse hat vor allem mit dem Streik bei Ford ihr übliches Geschäft gemacht: Fragen von Gerechtigkeit und Teilhabe zu Benimmfragen umgedichtet. Die BILD konstatierte, dass ein Gast, "der sich schlecht beträgt, vor die Tür gesetzt" gehöre. Andere drucken das Wort "Türkenterror" in großen Druckbuchstaben auf ihre Titelseiten.

Prügel, Jobverlust und Abschiebung: Konsequenzen des Streiks bei Ford

Der Streik endete mit einem Polizeieinsatz. Diskriminierung und Ausbeutung gingen weiter. Protestierende wurden bei der Auflösung des Streiks von Kollegen und Polizei verprügelt, der Streikanführer verlor seinen Job bei Ford. Ein wichtiges Mitglied des Streikkomitees, Baha Targün, wurde später abgeschoben.

Erfolgreich: Frauenstreik gegen Lohnungleichheit bei Pierburg

Bei dem Streik beim Neusser Automobil-Zulieferer Pierburg läuft 1973 vieles anders als beim Streik der Arbeiterinnen und Arbeiter der Ford-Werke. Es sind migrantische Frauen, die mehrere Tage den Betrieb lahmlegen. Die Polizei ist auch hier nicht zimperlich mit den griechischen Anführerinnen, doch am Ende gewinnen sie: Die "Leichtlohngruppe II", in der bis dahin nur Frauen beschäftigt waren, wird abgeschafft. Ein Meilenstein im Kampf gegen Lohnungleichheit zwischen Frauen und Männern.

Der Frauenstreik bei dem Autozulieferer Pierburg in Neuss , hier am 14. August 1973, war ebenfalls ein sogenannter wilder Streik (Foto: IMAGO, IMAGO / Klaus Rose)
Der Frauenstreik bei dem Autozulieferer Pierburg in Neuss , hier am 14. August 1973, war ebenfalls ein sogenannter wilder Streik

Dass die Erinnerungen an diesen wilden Streik wachgehalten werden, ist ungewöhnlich. Betriebsräte und Gewerkschaften anderer Werke verstehen die wilden Streiks normalerweise nicht als Teil ihrer Geschichte. Doch der Betriebsrat von Pierburg erklärte sich damals solidarisch, und Teile der deutschen Stammbelegschaft streikten sogar mit den Frauen.

Literatur

  • Peter Birke: Wilde Streiks im Wirtschaftswunder.  Arbeitskämpfe, Gewerkschaften und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik. und Dänemark. Frankfurt am Main 2007
  • Günter Hinken: Integration durch Mitbestimmung: Das Beispiel der deutschen Automobilindustrie. Dezember 2018

Archivradio-Gespräch Fluchtpunkt Deutschland – Vom Kriegsende bis zum Asylkompromiss

Diskussionen über "Integration" und "gerechte Verteilung" von Flüchtlingen gab es schon im Nachkriegsdeutschland, als Millionen Vertriebene in die Bundesrepublik kamen. Gábor Paál im Gespräch mit dem Historiker Ulrich Herbert

SWR2 Wissen: Archivradio SWR2

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