Schwerpunkt Bruckners Sinfonien

Bruckner 9: Von Zwängen und Erlösung

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Gegensätze ziehen nicht nur einander an, sondern auch uns. Unsere Welt besteht aus Kontrasten, und wir versuchen ständig, für alles, was uns begegnet, ein passendes Gegenstück zu finden – vielleicht, um es besser einordnen zu können. Diesen Ordnungsdrang entwickelte sich bei Anton Bruckner zu einem Zwang, der nicht nur seine Biografie beeinflusste, sondern auch in vielen seiner Sinfonien hörbar wird. Vielleicht konnte er sich am Ende seines Lebens aber doch noch davon befreien: Seine neunte und letzte, unvollendete Sinfonie widmete er laut mündlicher Überlieferung "dem lieben Gott" und schuf ein Werk, das ihn als tiefgläubigen Menschen von dieser Welt erlöste. Damit hinterlässt er Musik, die berührt und bewegt.

Eingeübt: Bruckners Neunte mit Frederic Belli

Tun Sie sich keinen Zwang an, Herr Bruckner!

Diesen Rat hätte man Anton Bruckner gerne gegeben. Vielleicht hätte er es dann im Leben etwas einfacher gehabt. Bruckner entwickelte ein starkes inneres Verlangen nach Struktur und Ordnung, sowohl im Leben als auch in seiner Musik. Viele private und berufliche Niederlagen führten ihn 1867 nach eigener Aussage an den Rand des Wahnsinns. Er stürzte in eine Nervenkrise, von der er sich in einer Heilanstalt erholen musste. Mit seinem Streben nach gesellschaftlichem Aufstieg und Anerkennung stand er sich oft selbst im Weg. Darüber hinaus litt an einer Zählneurose, war empfänglich für Zahlenmystik. Teilweise nummerierte er jeden einzelnen Takt seiner Partituren akribisch, und wer in seinen Werken Takte zählt, wird auf so manche mathematisch exakte Einheit stoßen. Darum klingt Bruckners Musik für uns ordentlich: Wir hören bestimmte Klanggruppen und Klangfarben blockweise. Themen, Motive, einzelne Töne sind durch Generalpausen oder markierte Spielweisen voneinander getrennt und zu einem beeindruckenden Gerüst zusammengebaut. Ob das Pedanterie ist? Zweifelsohne entstand aus diesen Zwängen eine Musik, der sich viele kaum entziehen können. Sie klingt feingliedrig und klar, dann wieder als großer, weiter Klangraum; manchmal profan und bodenständig, gleichzeitig majestätisch und nicht von dieser Welt.

Animation Bruckner
"Ordnung muss sein, sagte Hans, da brachten sie ihn ins Spinnhaus." (Deutsches Sprichwort)

Zum Schluss die lang ersehnte Erlösung

Bruckner scheint spätestens am Ende seines Lebens einen Gegensatz zum Ordnungszwang gesucht und gerade in seiner 9. Sinfonie auch gefunden zu haben. 1887 begann er mit ersten Entwürfen zum Kopfsatz, am unvollendeten vierten Satz, der nur als Fragment vorliegt, arbeitete er noch in seinem Sterbejahr 1896. Diese letzten Jahre sind zwar von seinem schlechten Gesundheitszustand geprägt, allerdings ist seine Musik erfolgreich, wird aufgeführt, und auch gesellschaftlich hat er den Aufstieg geschafft. Geist und Körper verfallen aber zunehmend, und das Adagio, der dritte Satz, wird der letzte Satz seiner 9. Sinfonie bleiben. Gerade hier ist von der alten Ordnung nicht mehr viel übrig. Bruckner wagt viel, überrascht mit neuen harmonischen Spannungen, Chromatik, Dissonanzen und bringt dadurch eigentlich Unordnung in seine Musik. Aber ebnet er damit nicht den Weg für die Musik des 20. Jahrhunderts? Ist er am Schluss derjenige, der aus der alten Ordnung ausbrach und damit Neuem Platz machte? In jedem Fall ist die neunte Sinfonie sein großartiger Abschied, seine Erlösung von allem Irdischen. Seine Musik bleibt und macht ihn damit unsterblich.

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Autor/in
SWR