Alles schön harmonisch

Neoklassik – Ersetzt die Musikrichtung die Klassik?

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AUTOR/IN
Jan Ritterstaedt

Am 2. Februar ist das Takeover-Festival in Baden-Baden gestartet, das sich vor allem an junge Menschen richtet. Auch eine relativ junge und umstrittene Musikrichtung ist mit dabei: die so genannte Neoklassik. Deren Protagonisten scheinen den Nerv der Zeit zu treffen.

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„Primavera“ („Frühling“), heißt ein Stück des Komponisten und Pianisten Ludovico Einaudi.

Ein liegender Streicherteppich, dazu ein paar gebrochene Akkorde am Klavier. Alles schön harmonisch. An diesem musikalischen Setting ändert sich erst einmal nichts. Erst nach und nach verändern sich die Klavierfigurationen leicht, die Streicher folgen.

Neoklassik: Eine umstrittene Musikrichtung

Für manche ist das Musik zum Einschlafen, für andere ideal zum Stressabbau. Doch vor allem Klassik-Puristen bekommen beim Hören dieser Klänge erst richtig Stress. Neoklassik heißt diese durchaus umstrittene Musikrichtung.

Ludovico Einaudi ist einer der ganz Großen in diesem Geschäft. Ja, es geht hier auch ums Geschäft: Einaudis Album „Divenire“ verkauft sich zig Mal besser als ein „normales“ Klassikalbum. Und auch ein Komponist wie Max Richter ist längst fest im Neoklassik-Business verankert.

„On the Nature of Daylight“ („Über die Natur des Tageslichts“) heißt ein Stück von Max Richter aus dem Jahr 2004. Ein Streichorchester spielt einfach nur traurige Akkorde.

Klingt wie ein Loop, also eine Wiederholung in Schleife, wie man es aus der Popmusik kennt. Nur dass Richter hier eben klassische Musikinstrumente verwendet.

Suhlen im Wohlklang?

Millionen Menschen weltweit hören diese Musik vor allem über Streaming-Plattformen im Internet. Geht es da ums Suhlen im Wohlklang? Oder wollen die Komponisten der herkömmlichen Kunstmusik-Avantgarde eins auswischen?

Ein präpariertes Klavier, ein paar jazzhafte Improvisationen und ein minimalistisches Klangbild: „4:33 (A Tribute to John Cage)“ heißt ein Stück des Berliner Musikers Nils Frahm. Hier bezieht er sich auf ein berühmtes Werk von John Cage.

Abgrenzung von der elitären Klassik

Auch Frahm ist einer der ganz Großen der deutschen Neoklassik-Szene. Wie viele seiner Kolleginnen und Kollegen will auch er von der Schublade „Neoklassik“ nichts wissen.

Der Begriff ist ja auch problematisch: „Klassik“ ist für die meisten schließlich immer etwas Herausragendes, Elitäres. Aber genau das wollen die Stars der Neoklassik eben nicht. Sie musizieren lieber bewusst weiter zwischen vielen, sehr unterschiedlichen musikalischen Stilen.

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Der Neoklassik-Klangmix erweitert sich

„Only The Winds“ („Nur die Winde“) heißt ein Stück des Isländers Ólafur Arnalds. In der Frühzeit der Neoklassik, Ende der 1990er- bis Anfang der 2000er-Jahre, haben die Komponistinnen und Komponisten meist ausschließlich akustische Instrumente benutzt.

Inzwischen hat es sich geändert: Elektronische Sounds im Stil der Ambient-Musik und exotische Instrumente bereichern den Klangmix. So etwa bei dem Komponisten und Pianisten Volker Bertelmann, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Hauschka.

Der „Neoklassiker“ Hauschka: typische Biografie

Hauschkas Biografie ist in gewisser Weise typisch für einen „Neoklassiker“: abgebrochenes BWL- und Medizinstudium, Gründung einer Hip-Hop-Formation mit seinen Brüdern in den frühen 1990er-Jahren, Auftritte als Pianist, Beschäftigung mit dem Werk des Minimalisten John Cage.

Als Komponist wird er einem breiten Publikum vor allem durch seine Filmmusiken bekannt. Auch bei ihm gilt: Schräge Harmonien oder komplexe Rhythmen sucht man in seiner Musik vergeblich.

Es herrschen ausgewogene Proportionen und ein gleichbleibender Rhythmus. Ein tänzerischer Dreier im Walzer-Style ist in der Neoklassik schon die große Ausnahme, wie bei Nils Frahm.

Auch das gehört zur Neoklassik: Nebengeräusche des Instruments und des Spielers oder der Spielerin. Sie werden zum wichtigen Bestandteil der Komposition. „Musique concrète“ hat man diese Stilrichtung mal in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts genannt.

Rückgriff auf idealisierte Vergangenheit

Und es gab in Europa schon einmal so etwas wie Neoklassik: den Neoklassizismus zwischen den Weltkriegen. Komponisten wie Igor Strawinsky haben damals tief in die Vergangenheit hineingelauscht und barocke Formen und Formeln für sich neu entdeckt und mit zeitgenössischen Elementen kombiniert. Etwa in Strawinskys „Pulcinella-Suite“.

Klar: Neoklassizismus klingt anders als Neoklassik. Aber beide haben etwas gemeinsam, was wir heute gerne „Retro“ nennen: den Rückgriff auf eine vielleicht etwas idealisierte Vergangenheit.

Neoklassik: Erfüllt viele Bedürfnisse

Generell scheint mir, dass unter dem etwas zu einfachen Label Neoklassik einiges zusammenkommt: das Bedürfnis nach etwas Vertrautem, die Sehnsucht nach Entspannung und Entschleunigung und vielleicht auch der Wunsch zur Neubelebung der angestaubten Klassik-Szene.

Ob einem die sanft plätschernden Klangkaskaden nun gefallen oder nicht: Neoklassik scheint jedenfalls den Nerv unserer hektischen und polarisierten Zeit zu treffen. Und wie so oft in der Musikgeschichte: auch hier wird sich irgendwann die Spreu vom Weizen trennen.

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Jan Ritterstaedt