Francesco Piemontesi spielt den Schweizer Band der „Années de Pèlerinage“

Erhellend und tiefsinnig

Stand
AUTOR/IN
Susanne Stähr
KÜNSTLER/IN
Francesco Piemontesi (Klavier)

CD-Tipp vom 25.5.2018

Schweizer Impressionen

Die heikle Frage: Wer bin ich? – sie hat auch Franz Liszt umgetrieben. Und wenn er nach Antworten suchte, dann vertraute er auf das Klavier. Denn dieses Instrument war für den Virtuosen Liszt wie ein Alter Ego oder ein Doppelgänger: Er nannte es „mein Ich, meine Sprache, mein Leben“. Deshalb nutzte er das Klavier auch als Tagebuch und drückte seine Gedanken und Betrachtungen in pianistischer Form aus. Die Zyklen der „Années de Pèlerinage“, der „Wanderjahre“ also, bilden hierfür das Paradebeispiel: Liszt, wie er die Schweiz bereist oder durch Italien zieht. Der im Tessiner Locarno geborene Pianist Francesco Piemontesi hat nun den ersten, den Schweizer Band der „Années des Pèlerinage“ für Orfeo aufgenommen und führt uns als erstes dahin, wo die Schweiz nicht schweizerischer sein könnte: zur Wilhelm-Tell-Kapelle am Vierwaldstättersee.

Mit „La Chapelle de Guillaume Tell“, also einer Betrachtung über die Tellskapelle, beginnt der erste Band von Franz Liszts „Années de Pèlerinage“: Wir haben dieses Stück soeben mit Francesco Piemontesi gehört, dem 34-jährigen Tessiner Pianisten. Er setzt nicht auf die Überwältigungstechnik, will uns auch nicht Hören und Sehen vergehen lassen, sondern im Gegenteil: Es ist ein Nachdenken über Musik, das seine Interpretation prägt. Und das passt sehr gut zum Wesen dieser Werke, die auf innere Vorgänge gerichtet sind, selbst wenn sie dramatisch und lautstark werden. Deshalb bieten Liszts Schweizer Impressionen auch kein geschlossenes Weltbild, sondern haben eher Fragmentcharakter: Alles ist zerrissen und zerklüftet, die Musik bricht immer wieder ab, stellt sich selbst in Frage. Liszt geht es bei seinen Betrachtungen in dreifacher Hinsicht um die Natur: die Natur des Menschen, die Natur der Landschaft und die Natur der Klänge, also um das Spiel von Nähe und Ferne, um Echos, Schwebungen und Schwingungen. Die Klangwelt, die er dafür findet, kann bis ins Geräuschhafte driften, etwa im rasenden Tastendonner des Sturms oder auch beim silbrigen Rieseln der Quellen mit ihrem perlenden Wasserspiel.

Echte Souveränität

Wenn sich Francesco Piemontesi mit Franz Liszts „Au bord d’une source“ an eine rieselnde Quelle begibt, dann hat das schon etwas von einem Naturforscher an sich: Er lässt die Töne perlen und glitzern, zerlegt dabei die Motive und löst sie auf, bis nur noch der reine Klang bleibt. Und genau darin besteht die Modernität dieses Komponisten. Es ist ein erhellender, inspirierender und tiefsinniger Liszt, den Piemontesi bietet – das verbindet ihn mit den Interpretationen seines Lehrers Alfred Brendel. Er möchte nicht, dass wir staunend in Ohnmacht fallen, wie es bei Liszts eigenen Auftritten im Publikum geschehen sein soll, sondern er lädt uns eher zum Gespräch: Schauen wir uns das einmal gemeinsam an. Was nicht heißt, dass seine Interpretation in kühlem Werkstattlicht erfolgt. Piemontesi versteht es sehr wohl, die Dynamik bis zum Äußersten zu weiten oder Rasanz zu entfachen. Aber wichtiger als die Pranke ist ihm der Sinn der Musik. Und das ist echte Souveränität.

CD-Tipp vom 25.05.2018 aus der Sendung SWR2 Treffpunkt Klassik - Neue CDs

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AUTOR/IN
Susanne Stähr
KÜNSTLER/IN
Francesco Piemontesi (Klavier)