Christian Thielemanns "Liebe" zu Gustav Mahler
Manche Musiker, wie z.B. Nils Mönkemeyer, ziehen weite konzentrische Kreise um ihr Tun; andere gehören mehr zu den Tiefenbohrern, verharren lieber an den mehr oder weniger gleichen Stellen und wagen selten nur Ausflüge hinaus in ein unbekannteres Terrain und Repertoire. Zu den letzteren gehört der Dirigent Christian Thielemann, ein ausgewiesener Wagner-, Bruckner-, Strauss- und Beethoven-Spezialist mit gewissen Neigungen im italienischen Fach und einer gewachsenen Aversion gegen Gustav Mahler, aus der er keinen Hehl macht. Diese Aversion, diese Skepsis scheint nun – Thielemann wird nächstes Jahr 60 – langsam zu bröckeln. Mahlers Achte dirigierte er bereits 2010 mit seinem damaligen Orchester, den Münchner Philharmonikern, 2011 folgten Wunderhorn-Lieder und das Adagio aus der Zehnten, und kürzlich erst, in Dresden und bei den Salzburger Osterfestspielen, wagte er sich mit der Dresdner Staatskapelle an Mahlers Dritte. So ganz kann Thielemann es also doch nicht lassen, und was wäre schon stärker als die Hassliebe eines Dirigenten zu einem Komponisten, mit dem er sich schwer tut und von dem er gleichzeitig weiß oder zumindest ahnt, wie viel Schönes und Berührendes in seiner Musik verborgen liegt.
Er möge das Schrille und Grelle bei Mahler nicht, hat Christian Thielemann einmal gesagt, und entsprechend wird man es bei ihm wenig finden. Betrachtet er Mahler mehr durch die Brille Bruckners oder Richard Strauss‘? Ein Mahler, dessen Abgründe und Weltschmerzgesten absichtlich verkannt werden? Oder liegt das Abgründige und Weltschmerzliche nicht vielmehr in der Musik selbst? Ist das nicht alles bereits komponiert, und ginge es demzufolge mehr darum, dirigentisch möglichst wenig zu „machen“? Viele Fragen, große Fragen, die nicht leicht zu beantworten sind.
Fehlende Gesellschaftskritik
Das Adagio aus der Zehnten musizieren die Münchner ungeheuer klangschön und klangsensibel. Die letzte Schärfe und Würze aber scheint ihm zu fehlen, die Gewissheit des Abschieds und des Abschiednehmenmüssens, die Mahler ganz sicher gespürt hat so kurz vor seinem Tod. Fürchtet Thielemann diese „letzten Dinge“, glaubt er, letztlich sei alles in Schönheit aufgehoben und geborgen? Vielleicht. Vielleicht ist die Zeit der extremen, extremistischen Mahler-Interpretationen aber auch vorbei. Vielleicht wird es künftig mehr darum gehen, in Mahler den Bewahrer von Traditionen zu sehen, in die er sich gestellt sah, als denjenigen, der mit jedem und allem brach. Zumindest wäre dies ein interessanter Gedanke. Das dezidiert Gesellschaftskritische jedenfalls, das den Wunderhorn-Liedern auch innewohnt, muss man sich bei Michael Volle und den Münchner Philharmonikern eher selber denken.
Michael Volle singt und Christian Thielemann dirigiert Gustav Mahler: die neue CD der Münchner Philharmoniker, veröffentlicht auf ihrem hauseigenen Label MPHIL.
CD-Tipp vom 04.05.2018 aus der Sendung Treffpunkt Klassik - Neue CDs