Album-Tipp

Eine Stimme im Niemandsland: Jessye Normans „Unreleased Masters“

Stand
AUTOR/IN
Manuel Brug
Manuel Brug (Foto: Pressestelle, Claudius Pflug)
KÜNSTLER/IN
Jessye Norman
ONLINEFASSUNG
Dominic Konrad

2019 starb die große Sopranistin Jessye Norman mit 74 Jahren. Jetzt veröffentlicht Decca Records drei CDs mit „The Unrealeased Masters“: Aufnahmen mit Musik von Wagner, Strauss, Haydn, Berlioz und Britten, die Jessye Norman zu Lebzeiten nicht freigegeben hatte. Einiges sind Doubletten, aber es gibt auch Katalogpremieren. Können sie Jessye Normans eigenen, strengen Maßstäben standhalten?

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Arien aus dem „Tristan“, den Jessye Norman zu Lebzeiten nicht freigab

Es ist nicht nur Isoldes Liebestod! Den hat Jessye Norman bereits mehrere Male aufgenommen. Auf der neuen Veröffentlichung finden sich Auszüge aus Wagners „Tristan“, die diese große Sängerin schon 1998 in Leipzig eingespielt, aber nie freigeben hat.

Dreieinhalb Jahre nach Normans Tod erscheinen sie nun posthum, mit Erlaubnis der Erben. Darf man das? Nach Meinung der Fans, die noch heute süchtig sind nach jedem unbekannten Jessye-Ton: Natürlich!

Deswegen gibt es jetzt auf drei Decca-CDs „The Unrealeased Masters“. Das klingt bewusst sehr bedeutungsgeschwollen. Zumal das meiste nur Varianten bereits bekannten Repertoires sind. Aber eben nicht alles, wie etwa diese 50 Minuten schön schaumiges Wagner-Wohlfühlklangbad.

Das Liebesduett aus dem 2. Akt: „O sink hernieder, Nacht der Liebe“

Alles ganz ordentlich, mystisch aber tönt anders.

Auch die Liebesszene des zweiten Akts aus „Tristan und Isolde“ hatte Jessye Norman vorher nie aufgenommen, geschweige denn auf der Bühne gesungen. Zu hören sind nun also Isolde-Ausschnitte aus dem ersten Akt mit einigen scharfen Spitzentönen der über 50-Jährigen, Teile des Liebesduetts und nochmals der Liebestod.

Kurt Masur dirigiert sehr stoisch, die Stimmung bei den Aufnahmen soll schlecht gewesen sein. Norman flackert bisweilen, lässt aber auch herrlich majestätisch fließende Linien erleben. Thomas Moser ist ein heller, fokussierter, gut passender Tristan, Hanna Schwarz als Brangäne meist neben der Intonationsspur. Ja, das ist alles ganz ordentlich, mystisch aber tönt anders.

In bester Erinnerung: Normans Interpretation von Isoldes Liebestod

Eine Stimme im Niemandsland zwischen lyrisch und dramatisch

Bei den schwammig abgemischten „Vier letzten Liedern“ von Richard Strauss, dirigiert von James Levine mit den Berliner Philharmonikern, singt Jessye Norman 1989 vergeblich gegen die eigene Legende von 1982 unter Masur an. Wagners Wesendonck-Lieder mit der gleichen Combo sind allerdings verführerisch-üppiger als auf der Colin-Davis-Einspielung.

„Was ich anzubieten habe, ist eine singende, musizierende Stimme“, hat Jessye Norman einmal gesagt. Und traumschön und samtweich, zart und frivol flirrend, ebenholzdunkel und satt, wird sie hier neuerlich zum Ereignis. Eine Stimme im Niemandsland zwischen lyrisch und dramatisch, schwer, aber auch beweglich. Und sofort zu erkennen.

Jessye Norman war ein Gesamtkunstwerk. Aber auch eine Außenseiterin. Sie passte in kein Fach, sie hatte Temperament, nicht immer nur zu ihren Gunsten. Sie hatte einen unbedingten Willen und viel Ehrgeiz. Sie war eine Perfektionistin. Eine Königin, ein großmächtige Stimmprinzessin – wie in der Haydn-Kantate „Scena di Berenice“ auf einen Metastasio-Text zu erleben.

Jessye Norman singt Haydns „Scena di Berenice“

Für Normans royale Phädra allein lohnt die Aufnahme

2019 ist Jessye Norman gestorben, erst 74 Jahre alt, aber schon länger verstummt. Zu Lebzeiten war sie bereits Legende. Dieser Haydn stammt von einem die dritte CD des Jessye-Norman-Nachlass füllenden Konzert-Mitschnitt aus Boston unter Seiji Ozawa von 1994.

Da mischt sie stilistisch reizvoll drei musikalisch unterschiedliche antike Frauengestalten: die Berenice von Haydn, die Kleopatra von Hector Berlioz und die Phädra von Benjamin Britten. Haydn (mit Klavier) und Berlioz sind ebenfalls Repliken.

Aber spontaner, direkter angegangen, ist Phädra, die Gattin des Theseus, eine echte Premiere. Also ja, allein für 16 Minuten royalen Britten und ausführlicheren, wenn eben nicht vollends gelungenen Wagner kann man sich dieses Set schon leisten. Nicht nur als Jessye-Norman-Hardcore-Fan.

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Manuel Brug (Foto: Pressestelle, Claudius Pflug)
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