Musikmarkt: CD-Tipp

Igor Levit spielt Dmitri Schostakowitsch und Ronald Stevenson

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AUTOR/IN
Christoph Vratz

Man könnte eine Umfrage starten: Wer ist der medial meist präsente Pianist der Gegenwart? Nimmt man seine Auftritte im Fernsehen und auf Social Media hinzu, so steht sicher Igor Levit an der Spitze. Neben allen möglichen Statements zu Politik und anderen Themen vergisst man leicht, dass Levits Hauptberuf immer noch das Klavierspielen ist.

Nun meldet er sich in Sachen Kerngeschäft mit einem neuen Album zurück, das zwei Werke abseits des gängigen Repertoires beleuchtet: Musik von Dmitri Schostakowitsch und Ronald Stevenson. Christoph Vratz hat sich Igor Levits neueste Beiträge aus dem Aufnahmestudio angehört.

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Schostakowitschs Vorbild ist natürlich Bach

Es beginnt wie beim großen Vorbild, dem „Wohltemperierten Klavier“ von Johann Sebastian Bach. Auch der russische Komponist Dmitri Schostakowitsch eröffnet seine monumentale Sammlung mit Präludien und Fugen mit der Tonart C-Dur. Aber anders als bei Bach, wo alles fließende Bewegung ist, reiht Schostakowitsch (fast) lauter Akkorde aneinander.

Igor Levit ist ein Mann für die schweren Kolosse des Repertoires, er gibt den Gewichtheber und Marathonläufer in einem – ob große Variationen-Zyklen oder das gesamte Sonatenschaffen von Beethoven – Levit stemmt alles und erweist sich, bildlich gesprochen, als eine Art Notenfresser. Wer sonst als er würde sich zumuten, in so kurzer Zeit so viele neue Stücke zu lernen wie Levit - egal ob Kammermusik, große Konzerte oder Solowerke?

Ritual der Selbsterkundung

Für Igor Levit stellt der zweieinhalb Stunden lange Schostakowitsch-Zyklus eine „Verbindung von Wärme, Unmittelbarkeit und purer Einsamkeit“ dar: „Für mich ist das ein Ritual der Selbsterkundung und -entdeckung, das intimste Fragen verhandelt“. Soweit Levit im Beiheft. Nun gut, ähnliches ließe sich wohl über jedes herausragende Musikwerk in ähnlicher Weise sagen. Aber geschenkt. Es gibt Präludien, die Levits Aussage zweifellos stärken:

Hohe Kunst des Klavierspiels

Ja, man kann Levits pianistischen Hang zu Großprojekten kritisch sehen, und darf fragen: Erreicht er wirklich immer Top-Niveau, und auch hier? Lassen Sie es mich umgekehrt sagen und behaupten: Levit gelingt es wieder einmal, nie unterhalb eines bestimmten Levels zu spielen, und dieses Level ist zugegebenermaßen hoch. Mit welcher Innigkeit er etwa die fünfstimmige Fis-Dur-Fuge durchmisst, wie er das innere Leuchten der Melodie gleichzeitig mit einer milchigen Fahlheit ausstattet, das ist schon hohe Kunst des Klavierspiels.

Wie Levit umgekehrt das Rhythmisch-Motorische – ohnehin eines der Markenzeichen bei Schostakowitsch – herauskehrt, ohne sich mit einem rein repetitiven Selbstzweck zufrieden zu geben, auch das ist beachtlich. So lautet eine der Kernbotschaften dieses Albums: perkussives Pochen gewinnt erst dann an Überzeugungskraft, wenn es in einen erkennbaren musikalischen Prozess eingebunden wird.

Buntes Kaleidoskop

Insgesamt präsentiert uns Igor Levit diesen zugegeben etwas sperrigen Zyklus von Dmitri Schostakowitsch als buntes Kaleidoskop, als einen Zyklus voll zarter Empfindungen, schmerzender Reibungen; als ein Kompendium aus Auflehnung, Resignation und Hoffnung. Den zweiten Teil dieser neuen Aufnahme bildet die selten zu hörende 21-teilige „Passacaglia on DSCH“ des Schotten Robert Stevenson. DSCH – das sind die Initialen von Dmitri Schostakowitsch, und damit wäre der Bezug zwischen beiden Werken auch schon geklärt.

Verlässlicher Guide durch ungewohnte Klangwelten

Levit hat sich schon mehrfach als Entdecker von Werken erwiesen, die abseits der großen öffentlichen Wahrnehmung liegen. So auch bei Stevensons vielschichtiger „Passacaglia“, entstanden im Jahr 1960. Levit gibt sich immer gern als Reiseführer: Sein Anschlag ist klar, sein Pedaleinsatz klug dosiert, die Gewichtung der einzelnen Stimmen umsichtig. So entpuppt er sich auch hier als verlässlicher Guide durch ungewohnte Klangwelten.

Beide Werke auf diesem Album haben eines gemeinsam: Sie berühren den Hörer nicht sofort, auch nicht bei dieser Aufnahme. Doch Igor Levit ist viel zu gewissenhaft in die Materie eingestiegen, um uns die Reize und auch die Herausforderungen dieser Musik vorzuenthalten. So braucht es vom Hörer durchaus ein wenig Geduld und Ausdauer, um die Qualität dieser Aufnahme entsprechend würdigen zu können.

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Christoph Vratz