Studie über die musikalische Poetik von Mikis Theodorakis

Vertane Chance

Stand
AUTOR/IN
Georg Beck

Buchkritik vom 7.10.2015

Ein Bekenntnis, eine Botschaft und für Autor Gerhard Folkerts geradezu die Kurzform für die musikalische Poetik des Mikis Theodorakis: Musik muss schön sein, und sie muss praktisch werden. Zweifellos, eine schöne Idee! – Nur, dass sie bei Theodorakis zuverlässig mit Polemik einhergeht. Etwa, wenn es um jene musikalischen Volksbildungsseminare geht, die er in den 60ern als eine Art mobile Musikschulen ins Leben gerufen hat: Gemeinsam mit seinen Athener Mitmusikern pilgert er über die Dörfer, veranstaltet Gesprächs-, gibt Workshopkonzerte. Natürlich geht man da sofort mit, applaudiert innerlich dieser von Kunsteifer angetriebenen Volksbildungsmission; andererseits wird man aber auch stutzig, wenn Theodorakis dieselbe Unternehmung gegen den Geist des (Athener) Konservatoriums gerichtet wissen will – einer Institution, der er selber entstammte und der er so unendlich viel verdankte.

zitiert Autor Folkerts aus: Meine Stellung in der Musikszene, eine Theodorakis-Schrift aus dem Jahr 1986. Da wüsste man natürlich gern, ob solch steile These heute immer noch gültig sein soll, oder ob der Urheber darin nicht doch einen ziemlichen Widerspruch erkennt. Wieso „Zerstören“, was mich hervorgebracht hat? – Nachfragen, die Folkerts problemlos hätte stellen können. Zwischen 2004 und 2013 ist er regelmäßig Gast in Theodorakis‘ Athener Wohnung, um den Austausch zu pflegen und gemeinsam mit seinem Gastgeber dessen Musik zu hören. „Athener Gespräche“ nennt Folkerts diese Begegnungen, die er als Gedächtnisprotokolle (naturgemäß ein unsicheres Verfahren) reichlich in seine Studie einfließen lässt. Nicht selten so, dass man nicht recht weiß, wer spricht. Was wiederum der Tendenz dieses Buches entspricht: jede auch noch so kleine Differenz zwischen Autor und Gegenüber zum Verschwinden zu bringen.

Zur musikalischen Analyse hat Folkerts ein gespaltenes Verhältnis. Er sieht sich als Sprachrohr, versteht sich nicht als mehr oder minder geschickter Operateur, der die Zeitgeistschichten behutsam abhebt und zur Präparation bringt. Bringt Theodorakis die „gesellschaftliche Verantwortung“ ins Spiel, so gehört diese Münze der bewegten 68er-Generation für Gerhard Folkerts nicht unters Mikroskop, sondern neu aufgelegt. Eine Haltung, mit der er das Leben des Mikis Theodorakis durchgeht, beginnend 1937 als der 12-Jährige seine ersten Lieder schreibt, endend 2001 mit der letzten Oper Lysistrate: Alles in allem ein Riesenwerk, das Folkerts mit Theodorakis in „fünf Schaffensphasen“ teilt – und das doch (müssen wir hinzusetzen) so voller Widersprüche ist.

Da ist das Volkstümliche, das sich am Kunstmusikanspuch reibt. Oder das Beispiel Musikindustrie. Ein Thema, das Folkerts / Theodorakis nur mit der Kneifzange anfassen möchten. Nur, dass es derselbe Theodorakis mit Hilfe der geschmähten Musikindustrie ja doch zum Plattenmillionär gebracht hat: Zwischen 1960 und 67 haben nur die Beatles mehr Scheiben verkauft. Gesichtspunkte, die Folkerts in seiner Studie zur „musikalischen Poetik“ großzügig übergeht.

Es kommt nicht gerade oft vor, dass sich die Stärke eines Buches unter der Hand als dessen empfindliche Schwäche herausstellt. So hochpassioniert, so authentisch und empathisch, wie sie daherkommt – diese Studie zur „musikalischen Poetik“ des Mikis Theodorakis –, so hoch ist am Ende auch ihre Fallhöhe. Was nicht zuletzt damit zu tun hat, dass Folkerts von Widersprüchen, von Zwiespältigkeiten dieses bewundernswerten Musikers und Komponisten nichts wissen will. Dass Theodorakis unter Komponistenkollegen hierzulande nicht allzu hoch im Kurs steht, ist Folkerts bewusst. Doch anstatt die Skepsis ernst zu nehmen, immunisiert er seinen gescholtenen Helden und zahlt mit gleicher Münze zurück. Wenn etwa Theodorakis (im Grunde ohne Not) gegen die Zweite Wiener Schule und die Nachkriegsavantgarde und deren angebliche „Verabsolutierung einer Kompositionsmethode“ polemisiert, leiht ihm Folkerts die Stimme. Fazit: Eine vertane Chance. Was positiv bleibt, ist der Fingerzeig auf ein weithin unbekanntes Werk

Buchkritik vom 7.10.2015 aus der Sendung „SWR2 Cluster“

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Georg Beck