Walter Felsenstein - Die Entlarvung eine Legende

Schon jetzt ein Standardwerk

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AUTOR/IN
Dieter David Scholz

Buchkritik vom 15.7.2015

Walter Felsenstein gilt als Inkarnation der Komischen Oper Berlin, sein Name ist Legende. 1975 ist der Wiener Regisseur, der als Vater der Ostberliner Komischen Oper gilt, gestorben. Aber schon zu Lebzeiten wurde er von der DDR verklärt, idolisiert und der staatlichen Kunstdoktrin und -propaganda einverleibt. Jetzt endlich ist in der Reihe „Dresdner Schriften zur Musik“ des Tectum Verlags eine 1372 Seiten starke Publikation erschienen, die diese Felsensteinlegende entlarvt. Es handelt sich um die Dresdner Dissertationsschrift von Boris Kehrmann; Dieter David Scholz hat sie unter die Lupe genommen.

369 Mal wurde Walter Felsensteins legendäre Inszenierung von Jacques Offenbachs „Ritter Blaubart“, die 1963 Premiere hatte, in der Komischen Oper gezeigt. Die letzten Aufführungen des Stücks gab es 1992. Felsensteins Name steht nur noch für eine große Vergangenheit. Doch die wird meist reduziert auf das Wirken Felsensteins in der DDR, wie Boris Kehrmann erläutert:

Diese Legende hat Boris Kehrmann mit seiner imposanten, mehr als 1300 Seiten starken Publikation überzeugend zertrümmert. Er stellt den gebürtigen Österreicher als Grenzgänger zwischen Ost und West dar, aber auch innerhalb des Musiktheaters. Um Felsenstein und sein Musiktheater einordnen zu können, hat Kehrmann nicht nur seine Leistung als Dramaturg und Regisseur beleuchtet, sondern auch seine Kindheit, Jugend und Ausbildung, seine familiäre Herkunft, die nationalsozialistisch angehaucht ist, sein gesellschaftliches und künstlerisches Umfeld, schließlich seine Haltung zum Nationalsozialistischen und zum Deutschland der DDR.

Kehrmann geht es darum, „den Regisseur Felsenstein vom Klischee „einer Ikone des DDR-Theaters“ zu befreien. Er versucht den Spagat zwischen Dokumentation und Biographie, Darstellung von Privatleben und Karriere, Theatertheorie und -praxis im zeithistorischen Kontext. Niemand hat sich je so gründlich in die Causa Felsenstein vertieft, hat sich so unbeirrt und schonungslos durch zahllose Archive und Zeitungsjahrgänge hindurchgearbeitet wie Kehrmann. Einer der zentralen Begriffe, der zum Mythos Felsenstein gehört, ist der des „realistischen Musiktheaters“. Es ist längst an der Zeit, sich zu fragen, ob der Begriff „realistisches Musiktheater“ überhaupt noch sinnvoll ist:

Kehrmann weist akribisch alle theoretischen wie in Gesprächen und Interviews getätigten Äußerungen Felsensteins nach, in denen er sich von diesem Begriff distanziert. Und Kehrmann belegt die Absurdität des Begriffs mit der Darstellung aller wesentlichen Inszenierungen von Felsenstein, die er in den Jahrzehnten vor Gründung der Komischen Oper tätigte. Schließlich hat Felsenstein als Schauspieler, Dramaturg und Regisseur in Lübeck, Mannheim, Beuthen, Basel, Freiburg, Köln, Frankfurt am Main, Hamburg, Zürich und an verschiedenen Theatern Berlins gearbeitet, lange bevor die Komische Oper gegründet wurde. Sie ist für Kehrmann ohnehin nichts als „ein frommer Betrug“, da Felsenstein nie vorhatte, ein reines Operettenhaus zu gründen. Der Autor belegt präzise, wie Felsenstein seine Auftraggeber, Alexander Dymschitz, Leiter der Kulturabteilung der Sowjetischen Militär-Administration, und Oberst Tjulpanow, die unbedingt ein Operettenhaus installieren wollten, geschickt an der Nase herumgeführt hat, um ein eigenes Haus für seine ganz anderen Intentionen zu erhalten.

Besonders eindrucksvoll sind Kehrmanns Belege dafür, wie Felsenstein sowohl im Dritten Reich als auch in der DDR durch taktischen Opportunismus und List der scheinbaren Anpassung sein Ziel einer Reformoper verfolgte und realisierte. Er habe es stets verstanden, „die Rhetorik der Herrschenden für seine Zwecke der Erneuerung des Theaters zu instrumentalisieren“, so Kehrmann.

Ein Glücksfall sind die bisher unbekannten Briefe Walter Felsensteins an seine von der Erbengemeinschaft Felsenstein bis heute totgeschwiegenen ersten jüdischen Ehefrau Ellen, geborene Neumann. Die Briefe wurden Kehrmann von Ellen Felsensteins Sohn, Peter Brenner, überlassen, der übrigens von der Felsensteinerbengemeinschaft ausgeschlossen ist. Diese Briefe der Jahre 1925-1951, die bei Kehrmann zum ersten Mal publiziert werden, zeigen eine vielschichtigere, widersprüchlichere Person Walter Felsenstein als bisher, sein Verhältnis zum Judentum, zur Politik und zum Theater betreffend.

Vor allem Christoph Felsenstein, Sohn aus Felsensteins zweiter Ehe und Sprecher der Erbengemeinschaft, dürfte über die Erstpublikation dieser Briefe alles andere als „amused“ sein, da zur Felsensteinlegende die totgeschwiegene erste Ehefrau ebenso gehört wie die Doktrin „Einen Felsenstein vor der Komischen Oper gab es nicht.“ Die Publikation setzt Maßstäbe, ist konkurrenzlos und schon jetzt ein Standardwerk.

Buchkritik vom 15.7.2015 aus der Sendung „SWR2 Cluster“

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AUTOR/IN
Dieter David Scholz