Buchkritik

Shelly Kupferberg – Isidor. Ein jüdisches Leben

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AUTOR/IN
Eva Karnofsky

Kommerzialrat Isidor Geller ist Chef einer gut gehenden Lederwarenfabrik. Er ist gebildet, reich und hochangesehen in Wiens feiner Gesellschaft. Bis die Nationalsozialisten die Macht übernehmen. Seine Urgroßnichte Shelly Kupferberg ist Journalistin. In ihrem ersten Buch „Isidor: ein jüdisches Leben“ hat sie die erschütternde Geschichte ihres Urgroßonkels aufgeschrieben.

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Es war eine Entdeckung für die Berliner Journalistin Shelly Kupferberg, als sie auf dem Dachboden ein Bündel Briefe ihres jüdischen Großvaters Walter fand. Er hatte Nazi-Österreich 1938 verlassen und sich in Palästina angesiedelt. 1956 kehrte er für zwei Monate nach Wien zurück. Er wollte ausloten, ob eine endgültige Rückkehr möglich wäre.

Wieder in seiner geliebten Stadt, schrieb er seiner Frau jeden zweiten Tag einen Brief. Darin erzählt er auch von seinem Onkel Isidor, der einst ein angesehener Kommerzialrat in Wien war. Diese Briefe sind der Anlass für Kupferberg, ihrem Urgroßonkel Isidor intensiver nachzuspüren – in Gesprächen mit ihren Großeltern, in Archiven oder bei Behörden wie dem österreichischen Bundesdenkmalamt sowie auf dem Friedhof.

Nach diesen einleitenden Erklärungen tritt die recherchierende Journalistin zurück und wird zur auktorialen Erzählerin. Und wir lernen Dr. Isidor Geller genauer kennen. Zunächst 1935 in Wien, als reichen Mann, der sich in der Wiener Kulturszene bewegt wie ein Fisch im Wasser.

Jeden Sonntag erhält er in seiner hochherrschaftlichen Wohnung Besuch von seinem Neffen Walter, Kupferbergs Großvater. Dann springt die Erzählerin zurück in Isidors Kindheit und erzählt seine Geschichte chronologisch: von der Geburt 1886 bis zu seinem Tod im Jahr 1938. Sie verzichtet dabei auf Fußnoten oder Zitate und wählt die Form des biographischen Romans. Sie nimmt sich die Freiheit, manche Szenen ein wenig auszufabulieren, aber nicht so viel, dass es der Glaubwürdigkeit schadete.

Isidor stammt aus einer Kleinstadt nahe Lwiw, das damals Lemberg hieß und nicht zur Ukraine, sondern zur österreich-ungarischen Habsburgermonarchie gehörte. Er hieß damals Israel mit Vornamen und war eines von fünf Kindern einer armen, strenggläubigen jüdischen Familie. Als sein älterer Bruder David 1905 nach Wien zog, folgte er ihm, um dort zu studieren.

Um nicht als Jude erkannt zu werden, änderte er rasch seinen Vornamen. Der Name Israel könnte seiner Karriere im Wege stehen, vermutete er. Lange vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten spürte Isidor den Antisemitismus in Wien. Nur wahrhaben wollte er ihn nicht. Bis es zu spät war.

Als Chef einer Lederfabrik, die im Ersten Weltkrieg kriegswichtige Kleidung produzierte, wurde der promovierte Jurist ein bedeutender und wohlhabender Mann, der eine Weile mit der ungarischen Opernsängerin Ilona Massey liiert war. Wegen einer Hollywood-Karriere verließ sie ihn und brachte es bis zu einem Stern auf dem Walk of Fame. Isidors Schwester, die Urgroßmutter der Erzählerin, zog ebenfalls nach Wien und wurde zur gefragten Modistin.

Sehr lebendig schildert Kupferberg Isidors Leben in seiner eleganten Zehn-Zimmer-Wohnung, in der ihm Bedienstete jeden Wunsch erfüllen. Von seinen teils dunklen Geldgeschäften und seinen Schrullen schreibt sie mit einem Augenzwinkern. Als sich die Leserin ebenso wie ihr sympathischer Held Isidor in der größten Sicherheit wiegt, kommt der tiefe Fall.

Man weiß, was unter den Nazis mit den Juden in Wien passierte, und Kupferberg warnte gleich zu Beginn, dass von ihrem Urgroßonkel Isidor nur ein Koffer mit einem schweren Silberbesteck blieb. Trotzdem hofft man, dass ein so beliebter, wichtiger und gut vernetzter Mann vielleicht doch noch irgendwie davonkommt. Aber es folgen Verhaftung, Folter. Das Schlimmste war aber wohl der persönliche Verrat – begangen von Menschen, die Dr. Isidor Geller selbst immer großzügig unterstützt hat.

All dies haben tausende von jüdischen Familien unter den Nazis durchgemacht – Isidors Leben war in diesem Sinne ein typisch jüdisches Leben. Als Shelly Kupferbergs Großvater Walter bei seiner Wienreise 1956 einen dieser Verräter trifft, steht für ihn fest: Er wird in Israel bleiben.

Shelly Kupferbergs Buch „Isidor: Ein jüdisches Leben“ ist von erschütternder Intensität. Das liegt zum einen an dem Unfassbaren, das Kommerzialrat Isidor Geller und seine Familie nach dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland 1938 erdulden mussten. Doch es liegt auch daran, dass Kupferberg sich über weite Strecken für die Romanform entschieden hat.

Besonders gut gelingt es ihr, Atmosphäre zu schaffen – zunächst von Wohlstand und gesellschaftlicher Anerkennung und dann von Elend und Verzweiflung. Das macht das Buch so aufwühlend. „Isidor: Ein jüdisches Leben“ ist ein wichtiges Buch, weil es zeigt, wie schnell in einem demokratischen System die Stimmung umschlagen und einer blutrünstigen Diktatur den Weg ebnen kann.

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