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Pia Volk – Deutschlands verschwundene Orte. Ein Atlas

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AUTOR/IN
Michael Kuhlmann

Atlanten gehen schwer über den Ladentisch in Zeiten von Internet und Openstreetmap. Es sei denn, es sind besondere Atlanten. Pia Volk erzählt von dreißig historischen Orten in Deutschland, die heute nicht mehr zu finden sind. Von bronzezeitlichen Siedlungen bis hin zu symbolhaften Gebäuden, die aus politischen Gründen verschwinden mussten: eine anregende Lektüre, die sogar die Reiselust weckt.

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Was hat der mittelalterliche Stadtkern Berlins gemein mit der römischen Latrine in Rottenburg am Neckar und den Pfahlhäusern von Unteruhldingen am Bodensee? Es gibt sie im Original nicht mehr – und damit weckten sie das Interesse Pia Volks.

Für ihren Atlas Deutschlands verschwundene Orte ist die Leipzigerin kreuz und quer durchs Land gereist. Sie suchte nach Spuren der Judengasse in Frankfurt am Main; sie besuchte Reinheim im Saarland, wo in der Antike eine römische Palastvilla stand, aber auch in Oberhausen die erste Hütte des späteren Industriemolochs Ruhrgebiet. Im Falle der Heuneburg bei Sigmaringen rekonstruiert sie einen keltischen Handelsplatz der Eisenzeit mit immerhin viertausend Einwohnern.

Hinweise auf internationale Wirtschaftsbeziehungen

In der Bauweise der Häuser mischten sich Stile aus unterschiedlichen Ländern. Diese Melange deutet darauf hin, dass die Menschen von Heuneburg internationale Wirtschaftsbeziehungen pflegten. Internationale Einflüsse stellte man dann auch fest in den Grabbeigaben dreier keltischer Frauen, die an der Heuneburg bestattet worden waren und deren Ruhestätte vor gut zehn Jahren als Fürstinnengrab aus dem Gräberfeld Bettelbühl bekannt wurde. Aus diesen Grabbeigaben schließt Pia Volk, dass die keltische Gesellschaft hier vor 2.600 Jahren den Frauen einen höheren sozialen Rang eingeräumt habe, als man es von vielen anderen Völkern der Zeit annimmt. Antike Orte wie die Heuneburg machen ein Drittel des Buches aus, dazu gesellen sich sieben Schauplätze des Mittelalters und dreizehn aus der Neuzeit, zehn davon allein aus dem 20. Jahrhundert.

Auch scheinbar abseitige wie die Stadt Haren an der Ems, die 1945 von den Deutschen geräumt werden musste, damit dort polnische Soldaten untergebracht werden konnten: Menschen, die in der letzten Kriegsphase für die demokratische polnische Exilregierung in London gekämpft hatten. Für eine Regierung, die jetzt aber, nach der Eroberung Polens durch die Sowjetarmee, politisch im Abseits stand. Die polnischen Soldaten waren damit heimatlos geworden – sie emigrierten schließlich nach Großbritannien, in die USA und in die Niederlande; 1947 kehrten die Deutschen nach Haren zurück.

Kirchensprengungen in der DDR

Solche Abschnitte des Buches erzählen viel Zeitgeschichte, und da geht es auch um die DDR. Politisch aufgeladen waren da besonders zwei Orte: der Palast der Republik in Berlin und die 1968 gesprengte Paulinerkirche in Leipzig. Pia Volk schildert die jahrelange Wühlarbeit der Propaganda, die der Sprengung voranging; sie streift die Gestalt der 1971 dort fertiggestellten Universitätsgebäude, typischer DDR-Architektur der Moderne. Auch beim Palast der Republik kann man von Protesten gegen den Abriss lesen; Pia Volk erinnert überdies daran, dass es sich hier vor allem um einen Kulturpalast handelte: Neun von zehn Veranstaltungen seien dort vor 1989 kultureller Natur gewesen.

Streit um den Abriss des Palastes der Republik

Man hat hier also ein Buch vor sich, das unterhaltsam Geschichte vermittelt und doch sogar Kennern das eine oder andere Neue bietet. Die Autorin weist dabei an vielen Stellen auf Aspekte hin, die sich heute mangels Quellen nicht mehr erhellen lassen. Wohl hätte sie beim Palast der Republik auf den Skandal um das Festival Rock für den Frieden von 1984 hinweisen müssen: Dort sagte die Kölschrock-Gruppe BAP ihren Auftritt ab, weil die DDR ihr verbieten wollte, für Meinungsfreiheit einzutreten. Die staatsnahen Veranstalter fabrizierten daraus natürlich flugs eine Lüge: BAP sei nicht bereit gewesen, unter dem Symbol der Friedenstaube zu spielen. Fünf Jahre später war die SED-Diktatur am Ende, der Palast der Republik verschwand ab 2006 – gegen starke Proteste.

Natürlich lässt sich die hinter diesem Abriss stehende westdeutsche Ignoranz nicht vergleichen mit der Inhumanität der SED-Diktatur, die freien Denkern das Maul verband. Aber auch viele aus jener Ignoranz und Arroganz entsprungene Entscheidungen der Jahre nach 1990 werden dazu beigetragen haben, dass Ostdeutsche sich in der neuen Bundesrepublik nicht recht zuhause fühlten – und inzwischen der AfD in die Arme gelaufen sind. Und an dieser Stelle wird nicht nur dieser verschwundene Ort in Deutschland hochaktuell.

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