Der 1969 geborene Jens Balzer ist Journalist und Buchautor, veröffentlicht in der „Zeit", beim Deutschlandfunk und dem Musikmagazin „Rolling Stone". Er hat zwei vielbeachtete Bücher über die Siebziger und die Achtziger Jahre geschrieben und vollendet jetzt die Trilogie: „No Limit. Die Neunziger - das Jahrzehnt der Freiheit" – Michael Kuhlmann.
Das Mobiltelefon, die elektronische Post, die Internet-Suchmaschine – von alledem konnte man bestenfalls ahnen am Beginn der Dekade, die Jens Balzer in den Blick nimmt. Zehn Jahre später zogen diese Dinge in den Alltag ein. Am Ende eines grenzenlosen Jahrzehnts, wie Balzer es empfindet: nicht nur weil politische Mauern fielen. Sondern weil sich eine Kultur etablierte, in der der Einzelne sich als Individuum inszenieren wollte – ganz frei. Allerdings sei das eine – so wörtlich – dialektische Freiheit gewesen.
In der deregulierten Gesellschaft habe ein neuer Zwang geherrscht: der Zwang, sich stetig neu zu erfinden – und sich immer wieder Trends anzupassen. Und diese Selbstinszenierungen beschränkten sich ohnehin nur auf Formen des Konsums: Über ihn definierten sich viele Menschen in ihrem Bestreben, originell zu erscheinen. Abzulesen an der Jugendszene mit Techno-Rave, Tätowierungen und Piercings. Abzulesen auch am kommerziellen Fernsehen, das seinen Durchbruch erlebte. Zwar rückt das Buch die Kultur in den Vordergrund; doch es skizziert auch politische Entwicklungen. Der Autor erinnert an den neuen Rechtsradikalismus: Fuß gefasst habe der gerade unter Ostdeutschen, denen Erfahrung in der Demokratie fehlte.
Nachdenklich stimmt Balzers Hinweis, dass die erste politische Debatte, die die neuen Bundesbürger im Osten miterlebten, 1992 ausgerechnet die Schlammschlacht um Ausländer und Asyl war: Auch die Westdeutschen glänzten hier nicht eben mit aufgeklärter Diskussionskultur. Hier allerdings findet man eine der Lücken in diesem Buch: Zwar erwähnt der Autor das große Frankfurter Solidaritätskonzert Heute die! Morgen du! vom Dezember 1992 – und er bemängelt, dass dort keinerlei Musiker mit Migrationsbiographie auf der Bühne gestanden hätten. Die aber hätte Balzer haben können: gut vier Wochen zuvor in Köln beim nur wenig kleineren Festival Asch huh, Zäng ussenander!, zu dem der griechische Künstler Nick Nikitakis sogar die Titelmusik komponierte. Kein Wort darüber im Buch. Kein Wort aber auch über eine mediale Neuerung, die den Alltag viel tiefer prägte als das noch nerdige Internet, das Balzer so ausführlich beschreibt: In das damalige Tagesbegleitmedium Nummer eins – das Radio – brachten die neuen ARD-Jugendwellen wie SWR DasDing, HR XXL oder WDR EinsLive einen professionellen Verjüngungsschub. Die direkten Nachfahren jener aufmüpfigen Jugendsendungen wie SWF 3 Pop-Shop, denen konservative Politiker zwanzig Jahre zuvor die Zähne gezogen hatten; freilich waren diese Nachfahren – Neunziger-typisch – zahnlos-konsumorientiert.
Unvollständig beschreibt das Buch schließlich das deutsch-deutsche Thema: Da breitet Balzer den Mauerfall am 9. November 1989 aus – nichts aber über den 9. Oktober in Leipzig mit seiner Montagsdemonstration der 70.000: Wäre die gewaltsam niedergeschlagen worden – und es war nah dran –, dann hätte es womöglich nie einen Mauerfall gegeben. Ein west-zentrierter Blick also, und passend dazu fällt ein geistiges Kernthema der Neunziger komplett unter den Tisch: die vielzitierte Mauer in den Köpfen. Wo wurde es den Ostdeutschen schwergemacht, nach ihrem Beitritt tatsächlich anzukommen? Aus dieser Heimatlosigkeit schlugen Pegida und die AfD im Osten kräftig Kapital. Hier zeigt sich, dass No limit zwar eine Vielzahl kultureller Erscheinungen in Erinnerung ruft und einordnet, und das durchaus anregend.
Aber überwiegend nach den Aufmerksamkeits-Maßstäben von 2023: Einiges, was den Menschen vor dreißig Jahren wirklich auf den Nägeln brannte, bleibt außen vor. Dazu kommen kleine sachliche Unsauberkeiten: Bundeskanzler Kohl wird mal um mal mit der Forderung nach einer ‚geistigen und politischen Wende‘ zitiert; tatsächlich aber proklamierte Kohl, noch entschlossener, die ‚geistig-moralische‘ Wende.
Eine exakte Kulturgeschichte der neunziger Jahre hat man hier also nicht vor sich. Aber immerhin ein äußerst unterhaltsames, facettenreiches und somit sehr lesenswertes Buch über eine Dekade, die die Welt von heute entscheidend mitgeprägt hat.