SWR2 lesenswert Kritik

Jens Balzer – No Limit. Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit

Stand
Autor/in
Michael Kuhlmann

Historische Rückblicke auf bestimmte Schicksalsjahre sind seit einer Weile Mode. Mindestens ebenso ergiebig kann es aber sein, eine ganze Dekade in den Blick zu nehmen. Der Publizist Jens Balzer widmet sich in diesem Sinne seit 2019 den zurückliegenden Jahrzehnten der Zeitgeschichte. Er begann mit den siebziger Jahren, 2021 folgte ein Buch über die Achtziger, und nun ist Balzers Rückblick auf die neunziger Jahre in die Läden gekommen. Ein äußerst süffig zu lesender Kultur- und Mentalitätsabriss mit vielen erhellenden Momenten, sehr unterhaltsam, wenn auch mit einigen tiefen Lücken.

Der 1969 geborene Jens Balzer ist Journalist und Buchautor, veröffentlicht in der „Zeit", beim Deutschlandfunk und dem Musikmagazin „Rolling Stone". Er hat zwei vielbeachtete Bücher über die Siebziger und die Achtziger Jahre geschrieben und vollendet jetzt die Trilogie: „No Limit. Die Neunziger - das Jahrzehnt der Freiheit" – Michael Kuhlmann.

Das Mobiltelefon, die elektronische Post, die Internet-Suchmaschine – von alledem konnte man bestenfalls ahnen am Beginn der Dekade, die Jens Balzer in den Blick nimmt. Zehn Jahre später zogen diese Dinge in den Alltag ein. Am Ende eines grenzenlosen Jahrzehnts, wie Balzer es empfindet: nicht nur weil politische Mauern fielen. Sondern weil sich eine Kultur etablierte, in der der Einzelne sich als Individuum inszenieren wollte – ganz frei. Allerdings sei das eine – so wörtlich – dialektische Freiheit gewesen.

In der deregulierten Gesellschaft habe ein neuer Zwang geherrscht: der Zwang, sich stetig neu zu erfinden – und sich immer wieder Trends anzupassen. Und diese Selbstinszenierungen beschränkten sich ohnehin nur auf Formen des Konsums: Über ihn definierten sich viele Menschen in ihrem Bestreben, originell zu erscheinen. Abzulesen an der Jugendszene mit Techno-Rave, Tätowierungen und Piercings. Abzulesen auch am kommerziellen Fernsehen, das seinen Durchbruch erlebte. Zwar rückt das Buch die Kultur in den Vordergrund; doch es skizziert auch politische Entwicklungen. Der Autor erinnert an den neuen Rechtsradikalismus: Fuß gefasst habe der gerade unter Ostdeutschen, denen Erfahrung in der Demokratie fehlte.

Nachdenklich stimmt Balzers Hinweis, dass die erste politische Debatte, die die neuen Bundesbürger im Osten miterlebten, 1992 ausgerechnet die Schlammschlacht um Ausländer und Asyl war: Auch die Westdeutschen glänzten hier nicht eben mit aufgeklärter Diskussionskultur. Hier allerdings findet man eine der Lücken in diesem Buch: Zwar erwähnt der Autor das große Frankfurter Solidaritätskonzert Heute die! Morgen du! vom Dezember 1992 – und er bemängelt, dass dort keinerlei Musiker mit Migrationsbiographie auf der Bühne gestanden hätten. Die aber hätte Balzer haben können: gut vier Wochen zuvor in Köln beim nur wenig kleineren Festival Asch huh, Zäng ussenander!, zu dem der griechische Künstler Nick Nikitakis sogar die Titelmusik komponierte. Kein Wort darüber im Buch. Kein Wort aber auch über eine mediale Neuerung, die den Alltag viel tiefer prägte als das noch nerdige Internet, das Balzer so ausführlich beschreibt: In das damalige Tagesbegleitmedium Nummer eins – das Radio – brachten die neuen ARD-Jugendwellen wie SWR DasDing, HR XXL oder WDR EinsLive einen professionellen Verjüngungsschub. Die direkten Nachfahren jener aufmüpfigen Jugendsendungen wie SWF 3 Pop-Shop, denen konservative Politiker zwanzig Jahre zuvor die Zähne gezogen hatten; freilich waren diese Nachfahren – Neunziger-typisch – zahnlos-konsumorientiert.

Unvollständig beschreibt das Buch schließlich das deutsch-deutsche Thema: Da breitet Balzer den Mauerfall am 9. November 1989 aus – nichts aber über den 9. Oktober in Leipzig mit seiner Montagsdemonstration der 70.000: Wäre die gewaltsam niedergeschlagen worden – und es war nah dran –, dann hätte es womöglich nie einen Mauerfall gegeben. Ein west-zentrierter Blick also, und passend dazu fällt ein geistiges Kernthema der Neunziger komplett unter den Tisch: die vielzitierte Mauer in den Köpfen. Wo wurde es den Ostdeutschen schwergemacht, nach ihrem Beitritt tatsächlich anzukommen? Aus dieser Heimatlosigkeit schlugen Pegida und die AfD im Osten kräftig Kapital. Hier zeigt sich, dass No limit zwar eine Vielzahl kultureller Erscheinungen in Erinnerung ruft und einordnet, und das durchaus anregend.

Aber überwiegend nach den Aufmerksamkeits-Maßstäben von 2023: Einiges, was den Menschen vor dreißig Jahren wirklich auf den Nägeln brannte, bleibt außen vor. Dazu kommen kleine sachliche Unsauberkeiten: Bundeskanzler Kohl wird mal um mal mit der Forderung nach einer ‚geistigen und politischen Wende‘ zitiert; tatsächlich aber proklamierte Kohl, noch entschlossener, die ‚geistig-moralische‘ Wende.

Eine exakte Kulturgeschichte der neunziger Jahre hat man hier also nicht vor sich. Aber immerhin ein äußerst unterhaltsames, facettenreiches und somit sehr lesenswertes Buch über eine Dekade, die die Welt von heute entscheidend mitgeprägt hat.

Was geht - was bleibt? Zeitgeist. Debatten. Kultur. Vinyls, Buffalos und Synthesizer: Warum sind wir gerade so nostalgisch?

Die 80er und 90er Jahre sind zurück! Scheint zumindest so, wenn man aktuelle Musik hört oder Trends auf der Straße sieht. Und auch Apache 207 singt: “Ich seh' aus wie die Nineties, sie kriegt Daddy-Issues”. Aber woher kommt die Lust an der vergangenen Zeit? War früher wirklich alles besser? Oder reden wir uns die schnelllebige, digitale Gegenwart voller Krisen und Unsicherheiten schön?

Dass wir uns eher an positive Zeiten als an die negativen erinnern, bestätigt uns Monika Schönauer, sie ist Professorin für Neuropsychologin an der Uni Freiburg: “Je schlechter die Zeiten, desto mehr hat man einen Hang zur Nostalgie. In der Psychologie sagt man, Nostalgie ist ein Gefühl: Und wir können Erinnerungen abrufen, die dieses Gefühl auslösen.”

Pop-Experte und Autor Jens Balzer ist gerade aus den 90er-Jahren quasi wieder aufgetaucht: Er hat sich für sein neues Buch intensiv mit dem Jahrzehnt beschäftigt. Mauerfall, Ende des Kalten Krieges, das Ende der Geschichte: Es sie keine Überraschung, dass sich gerade viele nach den 90er-Jahren sehnen: “Die große Kriegsbedrohung, unter der man in den 80er-Jahren litt, war vorbei. Junge Menschen kamen ganz anders zusammen und feierten.” Diese Lust an Party habe zum Beispiel den Geist Berlins geprägt, der bis heute anhält.

Aber natürlich war früher eben nicht alles besser und Nostalgie hat nicht nur ihre schönen Seiten: Rechtspopulistische Politiker verklären gern die alten Zeiten und für viele, insbesondere queere Menschen, Frauen oder People of Colour waren die “guten alten Zeiten” oft alles andere als gut. Und es gebe natürlich auch ein kapitalistisches Interesse daran, die vergangenen Jahrzehnte zu verwerten, sagt Balzer: “Dass Serien wie Stranger Things gerade so populär sind, liegt auch daran, dass das die Generation der Boomer sei, die genug Geld hat, um zum Beispiel in die passenden Fashion-Items zu investieren.” Worin sich alle vier einig sind: Corona-Mottopartys in dreißig Jahren? Sie werden kommen!

Welches Jahrzehnt ruft bei euch nostalgische Gefühle hervor? Mailt uns, auch mit Feedback und Themenvorschlägen, an kulturpodcast@swr.de!

Host: Pia Masurczak und Christian Batzlen
Showrunner: Kristine Harthauer

Jens Balzers Buch über die 90er-Jahre: “No Limit. Die Neunziger - Das Jahrzehnt der Freiheit” https://www.rowohlt.de/buch/jens-balzer-no-limit-9783737101738

Gespräch Zwischen Angst und Aufbruch - Jens Balzer lädt zur Wiederbegegnung mit den Achtzigern

Der Journalist und Popkultur-Kenner Jens Balzer lenkt einen ebenso neugierigen wie nachdenklichen Blick auf ein Jahrzehnt, in dem vieles anfing, was uns heute noch beschäftigt.

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