Der kroatische Autor Hinko Gottlieb erzählt in „Der Schlüssel zum großen Tor“ vom grotesken Alltag einer Untersuchungshaft und lässt die Abgründe von Krieg und Verfolgung in einem philosophischen Dauergespräch aufscheinen.
Die Zelle eines Wiener Polizeigefängnisses: Hier treffen im Frühjahr 1941 vier europäische Bildungsbürger zusammen. Sie alle sind jüdischer Herkunft: ein Schriftsteller aus Zagreb, der Oberrabbiner von Saloniki, ein Rechtsanwalt aus Wien und schließlich der Physiker Dov Tarnopolski aus Warschau.
In Hinko Gottliebs Roman „Der Schlüssel zum großen Tor“ zieht dieser Tarnopolski von Beginn an alle Aufmerksamkeit auf sich, und zwar durch seine übersinnlichen Fähigkeiten. Er offenbart sich nämlich als Entwickler eines Raumkondensators. Mit Hilfe dieser spektakulären Erfindung ist er imstande, seine Umgebung nach Wunsch zu vergrößern oder zu verkleinern.
Ein sadistischer Nazi namens Weichselbraun
So führt er die drei anderen direkt vom Klapptisch der Zelle in ein komfortables Haus in der Nähe von Warschau. Dort speist man ausgiebig und gut, bringt sich durch einen britischen Sender im Radio auf den Stand des Kriegsgeschehens und schmökert in der umfangreichen Hausbibliothek. In diesem Haus taucht auf einmal aber auch ein Mann mit dem sprechenden Namen Weichselbraun auf.
Es ist der sadistische Wiener Gefängniswärter. Dank Raumkondensator krabbelt Weichselbraun jedoch nur noch fingergroß in einem Champagnerglas herum. Dieses und noch manch anderes starkes Stück leistet sich Tarnopolski und zieht schon dadurch den Leser in den Bann. Nach jeder wundersamen Begebenheit finden sich die vier Gefangenen allerdings im tristen Wiener Zellenalltag wieder. Den meistern sie mit blühender Phantasie und einem überwiegend sarkastischen Humor.
Vier Männer im philosophischen Dauerdisput
Zugleich verwickeln sie sich in einen philosophischen Dauerdisput mit ungewöhnlichen Spannungsmomenten. Der Physiker und Metaphysiker Tarnopolski behauptet etwa, es sei unmöglich, den Fängen der totalitären Herrschaft zu entkommen, ohne neue Schäden anzurichten. Die vier sollten allen phantastischen Ausflüchten zum Trotz in ihrer Zelle bleiben.
Strauß, der katholisch getaufte Wiener Anwalt, opponiert dagegen. Der Oberrabbiner von Saloniki sorgt sich um Wahrung der jüdischen Tradition unter allen Umständen, während der Schriftsteller aus Zagreb alle alltäglichen und alle noch so merkwürdigen Begebenheiten notiert und so auch das noch so Unglaubwürdige glaubhaft macht. Es ist dieser Ich-Erzähler, in dem sich Hinko Gottlieb selbst zu erkennen gibt.
Denn einiges von dem, was der Ich-Erzähler berichtet, hat der in Zagreb heimische Autor Hinko Gottlieb selbst erlebt. 1941, nach dem Überfall Deutschlands auf Jugoslawien und nach der Gründung des faschistischen Ustaša-Staats in Kroatien, wurde Gottlieb wie viele Juden in Zagreb verhaftet und in ein Wiener Polizeigefängnis verschleppt. Nach einigen Monaten kam er frei, damals bereits Mitte Fünfzig und eine stadtbekannte Persönlichkeit. Einige Monate später flüchtete er in die italienische Besatzungszone an der kroatischen Adria.
Hinko Gottlieb war selbst in einem Internierungslager
Seinen außergewöhnlichen Gefängnis-Roman „Der Schlüssel zum großen Tor“ verfasste Gottlieb zuerst in einem vergleichsweise erträglichen Internierungslager der Italiener. Nach dem Sturz Mussolinis schloss er sich Titos Partisanenarmee an. Bei den Partisanen ging das Romanmanuskript verloren.
Am Ende des Zweiten Weltkriegs schrieb er den Text daher noch einmal aus dem Gedächtnis nieder und übertrug ihn danach selbst ins Deutsche – für den in der Habsburger Monarchie mehrsprachig aufgewachsenen kroatischen Juden kein Kunststück.
Gottliebs sehr gut lesbare deutsche Version hat neben zahlreichen anderen Texten die kroatisch-deutsche Historikerin Marija Vulesica unlängst in einem israelischen Archiv entdeckt. Und Vulesica hat im Leipziger Hentrich & Hentrich Verlag eine auf mehrere Bände angelegte Gottlieb-Ausgabe initiiert. Den Auftakt markiert der „Schlüssel zum großen Tor“.
In seinem Roman erzählt Hinko Gottlieb so spannend wie eigenwillig von Gefangenschaft, Unterdrückung und Freiheit im Krieg. Seine Entdeckung ermöglicht dem deutschsprachigen Publikum zugleich einen neuen Blick auf die engen, jedoch wenig beachteten Verflechtungen zwischen den Kulturen Mittel- und Südosteuropas.