Der Ich-Erzähler in Florian Dietmaiers Debütroman „Die Kompromisse“ ist Jahrgang 1929, hat also sowohl den NS-Staat als auch den Zweiten Weltkrieg miterlebt. Die erzählte Zeit wiederum umfasst die Jahre 1960 bis 2020. Peter, so sein Vorname, tritt in die Fußstapfen seines adeligen Großvaters und Vaters: Er wird österreichischer Diplomat. Eine seiner ersten Einsatzgebiete ist Nauru – dieser Inselstaat im Pazifischen Ozean ist mit seinen knapp 12 000 Einwohnern die kleinste Republik auf unserem Planeten.
Weltgeschichte aus der Sicht winziger Staaten
Und damit lässt sich Dietmaiers Erzählstrategie umreißen, die sein Buch spannend macht: Er beleuchtet die Weltgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der ersten beiden Jahrzehnte des neuen Jahrtausends aus der Perspektive kleinerer Staaten. Dazu gehört auch Österreich nach der Auflösung der Habsburger-Monarchie. Allerdings konnte die Alpenrepublik nach 1945 wirtschaftlich prosperieren und damit auch einen gewissen Einfluss auf die internationale Politik nehmen. Das ist der Ausganspunkt für Peters Karriere. Im Fürstentum Liechtenstein – dem sechstkleinsten Land der Welt – wirbt er für Industrieinvestitionen nach Österreich, zugleich ist er ständiger Vertreter seines Heimatstaates bei der UN in Genf. Er ist im Generalkonsulat in New York tätig. Den Abschluss seiner Karriere bildet der Botschafterposten in Bern. Die Schweiz und Österreich, zwei potente Kleinstaaten.
Was bedeutet nationale Identität?
Kleinstaaten sind an sich keine Seltenheit. Man denke etwa an die Loslösung der Slowakei von Tschechien oder den Zerfall Jugoslawiens in mehrere Staaten wie etwa Serbien, Kroatien und Slowenien. Der kleine Folgestaat Kosovo wurde bis heute von Großstaaten wie Russland, China und Spanien nicht anerkannt. Die Frage, die Florian Dietmaier in seinem Roman stellt, ist eine doppelte: Ist eine nationale Identität notwendig – besonders für Kleinstaaten? Und wie verträgt sich ein nationales Selbstverständnis mit transnationalen Gebilden wie der EU oder der UNO? Diese Frage stellt sich auch für Peters Ehefrau Jane. Sie wuchs in der Nähe von Pittsburgh auf, doch ihre Großeltern stammten aus Serbien. Im Laufe der Jugoslawienkriege 1991 bis 2001 und der Ächtung Serbiens vor allem durch die EU und die USA vertritt Jane immer mehr die Position der Serben. Der österreichische Diplomat Peter steht natürlich auf der anderen Seite. Kann man – wie Jane – eine nationale Gesinnung für die „alte Heimat“ Serbien aufbauen, obwohl man das Land kaum kennt, ja, selbst Amerikanerin ist und als Übersetzerin mehrere Sprachen fließend beherrscht?
Ein schwuler Österreicher mit diplomatischem Geschick
Der Grazer Autor Florian Dietmaier ist klug genug, nicht eindeutig Stellung zu beziehen. Seine Hauptfigur vertritt sein Land mit diplomatischem Geschick. Österreich hat neun Millionen Einwohner. Ist man da im internationalen Vergleich eine Minderheit oder ist man es eben nicht, wenn man als gewiefter Player transnational agiert? Und wie steht es mit Peter selbst? Er ist zwar offiziell mit Jane verheiratet, hat nebenher auch homosexuelle Beziehungen. Nur 37 von 193 UNO-Mitgliedsstaaten haben bislang Ehen für gleichgeschlechtliche Paare rechtlich verankert. So gesehen gehört Peter als versteckter Schwuler einer Minderheit an – doch auch auf diesem Terrain bewegt er sich diplomatisch geschickt. Sein Zauberwort lautet: „Die Kompromisse“. So heißt daher auch der Roman. Florian Dietmaier erzählt in einer klaren, sachlichen, zeitweise emotionskargen Sprache das Leben eines Vollblutdiplomaten. Dabei stellt sich die wichtige Frage, ob persönliche wie nationale Identitäten in einer global agierenden Welt noch eine Rolle spielen – ja, ob man in der Lage ist, solche Identitäten sinnerfüllt zu leben. Der Diplomat Peter denkt, dass der Mensch ohne „gewisse Grundwerte“, wie er es nennt, an Boden verliert. Am Ende seines Lebens muss er einsehen, dass Werte wie „Nation“ oder „Heimat“ beinahe wertlos geworden sind – zerrieben im Getriebe eines rasant rotierenden Internationalismus.