SWR2 lesenswert Kritik

Florian Dietmaier – Die Kompromisse

Stand
AUTOR/IN
Andreas Puff-Trojan

In seinem Debutroman „Die Kompromisse“ zeichnet Florian Dietmaier den Lebensweg eines österreichischen Diplomaten namens Peter nach. Peter ist zeitlebens kompromissbereit, was bedeutet, dass er seine eigene Identität oft in Frage stellen muss. Äußerst klug kontrastiert der Autor nationale Identität mit einer global agierenden Welt.

Audio herunterladen (4,4 MB | MP3)

Der Ich-Erzähler in Florian Dietmaiers Debütroman „Die Kompromisse“ ist Jahrgang 1929, hat also sowohl den NS-Staat als auch den Zweiten Weltkrieg miterlebt. Die erzählte Zeit wiederum umfasst die Jahre 1960 bis 2020. Peter, so sein Vorname, tritt in die Fußstapfen seines adeligen Großvaters und Vaters: Er wird österreichischer Diplomat. Eine seiner ersten Einsatzgebiete ist Nauru – dieser Inselstaat im Pazifischen Ozean ist mit seinen knapp 12 000 Einwohnern die kleinste Republik auf unserem Planeten.

Weltgeschichte aus der Sicht winziger Staaten

Und damit lässt sich Dietmaiers Erzählstrategie umreißen, die sein Buch spannend macht: Er beleuchtet die Weltgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der ersten beiden Jahrzehnte des neuen Jahrtausends aus der Perspektive kleinerer Staaten. Dazu gehört auch Österreich nach der Auflösung der Habsburger-Monarchie. Allerdings konnte die Alpenrepublik nach 1945 wirtschaftlich prosperieren und damit auch einen gewissen Einfluss auf die internationale Politik nehmen. Das ist der Ausganspunkt für Peters Karriere. Im Fürstentum Liechtenstein – dem sechstkleinsten Land der Welt – wirbt er für Industrieinvestitionen nach Österreich, zugleich ist er ständiger Vertreter seines Heimatstaates bei der UN in Genf. Er ist im Generalkonsulat in New York tätig. Den Abschluss seiner Karriere bildet der Botschafterposten in Bern. Die Schweiz und Österreich, zwei potente Kleinstaaten.

Was bedeutet nationale Identität?

Kleinstaaten sind an sich keine Seltenheit. Man denke etwa an die Loslösung der Slowakei von Tschechien oder den Zerfall Jugoslawiens in mehrere Staaten wie etwa Serbien, Kroatien und Slowenien. Der kleine Folgestaat Kosovo wurde bis heute von Großstaaten wie Russland, China und Spanien nicht anerkannt. Die Frage, die Florian Dietmaier in seinem Roman stellt, ist eine doppelte: Ist eine nationale Identität notwendig – besonders für Kleinstaaten? Und wie verträgt sich ein nationales Selbstverständnis mit transnationalen Gebilden wie der EU oder der UNO? Diese Frage stellt sich auch für Peters Ehefrau Jane. Sie wuchs in der Nähe von Pittsburgh auf, doch ihre Großeltern stammten aus Serbien. Im Laufe der Jugoslawienkriege 1991 bis 2001 und der Ächtung Serbiens vor allem durch die EU und die USA vertritt Jane immer mehr die Position der Serben. Der österreichische Diplomat Peter steht natürlich auf der anderen Seite. Kann man – wie Jane – eine nationale Gesinnung für die „alte Heimat“ Serbien aufbauen, obwohl man das Land kaum kennt, ja, selbst Amerikanerin ist und als Übersetzerin mehrere Sprachen fließend beherrscht?

Ein schwuler Österreicher mit diplomatischem Geschick

Der Grazer Autor Florian Dietmaier ist klug genug, nicht eindeutig Stellung zu beziehen. Seine Hauptfigur vertritt sein Land mit diplomatischem Geschick. Österreich hat neun Millionen Einwohner. Ist man da im internationalen Vergleich eine Minderheit oder ist man es eben nicht, wenn man als gewiefter Player transnational agiert? Und wie steht es mit Peter selbst? Er ist zwar offiziell mit Jane verheiratet, hat nebenher auch homosexuelle Beziehungen. Nur 37 von 193 UNO-Mitgliedsstaaten haben bislang Ehen für gleichgeschlechtliche Paare rechtlich verankert. So gesehen gehört Peter als versteckter Schwuler einer Minderheit an – doch auch auf diesem Terrain bewegt er sich diplomatisch geschickt. Sein Zauberwort lautet: „Die Kompromisse“. So heißt daher auch der Roman. Florian Dietmaier erzählt in einer klaren, sachlichen, zeitweise emotionskargen Sprache das Leben eines Vollblutdiplomaten. Dabei stellt sich die wichtige Frage, ob persönliche wie nationale Identitäten in einer global agierenden Welt noch eine Rolle spielen – ja, ob man in der Lage ist, solche Identitäten sinnerfüllt zu leben. Der Diplomat Peter denkt, dass der Mensch ohne „gewisse Grundwerte“, wie er es nennt, an Boden verliert. Am Ende seines Lebens muss er einsehen, dass Werte wie „Nation“ oder „Heimat“ beinahe wertlos geworden sind – zerrieben im Getriebe eines rasant rotierenden Internationalismus.

Mehr Debütromane

Buchkritik Julia Jost – Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht

Die Welt, gesehen aus den Augen eines Kindes: In ihrem fulminanten Debütroman erzählt die Kärntnerin Julia Jost vom Aufwachsen auf dem Dorf, vom Aufstieg eines Provinzpolitikers und von historischen Kontinuitäten, die bis in die Gegenwart wirken. Der Titel ist in jedem Fall Programm: „Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht“!
Suhrkamp Verlag, 234 Seiten, 24 Euro
ISBN 978-3-518-43167-2

SWR2 lesenswert Kritik SWR2

Lesung und Diskussion Inga Machel: Auf den Gleisen

Mario hat seinen Vater verloren. Ein ICE, so sagt die Mutter, habe den Vater mit 200 Kilometern in der Stunde überfahren. Zehn Jahre später glaubt Mario, seinen Vater in einem Junkie wiederzuerkennen. Alle Maßstäbe verschwimmen.

SWR Bestenliste SWR2

Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2023 Herzzerreißend und unverschämt gut: Debütroman „Vatermal“ von Necati Öziri

Das Romandebüt von Necati Öziri funkelt auf jeder Seite vor Schönheit. Es geht um das Finden der eigenen Identität und Deutschland in der dritten Generation türkischer Einwanderer.

SWR2 am Morgen SWR2

Stand
AUTOR/IN
Andreas Puff-Trojan