Die magischen Geschichten von Tschingis Aitmatow
Nirgendwo habe sie Gesang so grandios in Worte beschrieben gelesen, schwärmt die Zeichnerin Kat Menschik von Aitmatows Novelle „Dshamilja“, die sie erst im letzten Jahr in einer Neuausgabe mit kunstvollen Illustrationen versehen hat.
Und schon bei ihrem Erscheinen 1958 bezeichnete der französische Schriftsteller Louis Aragon die Erzählung als „die schönste Liebesgeschichte der Welt“. Das Buch legte den Grundstein für eine beispiellose Schriftstellerkarriere vom kirgisischen Dorfjungen zu einem Autor von Weltrang, in der DDR wurde es zu Schullektüre.
Demut vor der Natur und ihren Tieren
Mit „Dshamilja“ stellt sich Aitmatow der Welt als einfühlsamer, empathischer und kluger Beobachter dar, der eine fremde Welt – die Steppen Kirgisiens, die alte mündliche Erzähltradition seiner Heimat – mit überwältigender Magie zum Klingen bringt. Großer Respekt und Demut vor der Natur und all ihren Tieren schwingen in seinen Erzählungen mit, die zugleich den brutalen Einbruch von Gewalt und Zerstörung durch Krieg und moderne Technologien schildern.
Es sind Gleichnisse, die an das Innerste des Menschen rühren und die Aitmatows internationale Berühmtheit erklären. So steht der Schriftsteller auch auf einer Lieblingsbücherliste der DDR-Bürgerinnen und Bürger ganz weit oben, wie eine stichprobenartige Umfrage des Kulturministers der DDR Hans-Joachim Hoffmann von 1983 ergeben hat.
Kirgisien – eine Kultur wird zerstört
Eine weite Landschaft, Grassteppen und Kornfelder, eine Jurte vor dem Hintergrund schneebedeckter Berge – das kirgisische Nomadenleben kennt Tschingis Aitmatow selbst fast nur noch aus Erzählungen vor allem seiner Großmutter. Sein Großvater ist bereits sesshaft geworden und arbeitet beim Eisenbahnbau.
Als Tschingis im Dezember 1928 in dem Dorf Scheker unweit der kasachischen Grenze geboren wird, ist die sowjetische Neuordnung Zentralasiens durch die bolschewistischen Machthaber bereits im vollen Gange.
Stalins Zugriff auf Mensch und Natur
Die alten Dorfstrukturen werden aufgelöst, Kolchosen entstehen, in die auch die Nomaden mit ihrem Vieh gezwungen werden. Stalin ordnet den Bau von Kanälen und Staudämmen an, um riesige Flächen für den Anbau von Baumwolle bewässern zu können.
Diese gigantischen Veränderungen, die mit großem Leid, Terror und Willkür verbunden sind, finden später ihren Platz in den Werken Aitmatows.
Ein kirgisischer Dorfjunge entdeckt die Kunst
Mit sieben Jahren verschlägt es Tschingis Aitmatow von der Provinz Zentralasiens in die Großstadt Moskau. Sein Vater, Gebietssekretär der kommunistischen Partei, hatte sich daheim als fleißiger Erfüllungsgehilfe der neuen Politik erwiesen und wurde in die Zentrale beordert. In Moskau besucht der Dorfjunge Theater, Konzerte und Kino – eine neue Welt, die ihn zutiefst fasziniert.
Er geht zur Schule, lernt russisch. Ein großes Glück, denn auf diese Weise entdeckt er die großen russischen Schriftsteller. Zugleich werden ihn diese neuen Fähigkeiten später vor unzumutbare Aufgaben stellen.
„Der Kern menschlicher Erfahrungen“
1937 wird Tschingis Aitmatows Vater Opfer der stalinistischen Säuberungen. Frau und Kinder hatte er zuvor in die kirgisische Heimat zurückgeschickt, wo die Familie, jetzt als politisch nicht vertrauenswürdig stigmatisiert, unter schwierigen Bedingungen ausharrt. Doch mit dem Krieg ändert sich die Lage.
Der 14-jährige Tschingis wird wegen seiner Russisch-Kenntnisse zum Sekretär des Dorfsowjets ernannt. In diesem Zusammenhang muss er den Angehörigen gefallener Soldaten die Todesmitteilung überreichen. Ebenso bedrückt ihn die Aufgabe, in dieser Zeit selbst bei verarmten, hungernden Menschen Steuern eintreiben zu müssen.
Damals sei er zum Kern menschlicher Erschütterungen vorgestoßen, erinnert sich Tschingis Aitmatow, der seine Erfahrungen 1998 in der autobiographischen Erzählung „Kindheit in Kirgisien“ beschreibt.
Die ersten Veröffentlichungen: „Aug in Auge“ und „Dshamilja“
1946 beginnt er Tiermedizin zu studieren, doch das, was er während des Krieges erlebt hat, treibt ihn um. Er ist entschlossen darüber zu schreiben. Und das tut er in seinem Erstlingswerk „Aug in Auge“ von 1957, das entgegen aller Staatsdoktrin einen Deserteur nicht nur als feigen Vaterlandsverräter darstellt, sondern einen als einen tragischen, zwischen Pflicht und Familie zerrissenen Menschen zeigt.
Nur ein Jahr später wird „Dshamilja“ veröffentlicht, eine unmögliche Liebe inmitten der Wirren des Zweiten Weltkrieges. Dass diese Texte überhaupt erscheinen können, liegt an der politischen Tauwetterperiode unter Chruschtschow.
Der internationale Durchbruch
Die sogenannte Entstalinisierung führt dazu, dass der Sohn des angeblichen Staatsfeindes 1956 am Maxim-Gorki-Literaturinstitut in Moskau studieren darf. Seine Abschlussarbeit „Dshamilja“ erscheint in der Zeitschrift „Nowy Mir“ und wird kurz darauf von dem von Russland begeisterten Schriftsteller Louis Aragon ins Französische übersetzt. Das wird der internationale Durchbruch des kirgisischen Autors.
Weder Dissident noch Sprachrohr
Obwohl Tschingis Aitmatow Parteimitglied ist, mit Leninpreis und mehrfach mit dem Staatspreis ausgezeichnet wird, ist er kein willfähriges Sprachrohr der kommunistischen Kader. Er macht Front gegen die gewaltigen Umweltzerstörungen in Kirgisien, ist Initiator des Aral-See-Komitees gegen die Austrocknung des einstmals viertgrößten Binnensees der Welt.
Auch mit Kritik an der brutalen Zwangskollektivierung in seiner Heimat hält er nicht zurück, auch wenn manche seiner Texte erst nach dem Ende der Sowjetunion erscheinen konnten. Tschingis Aitmatow nutzte geschickt seine Handlungsspielräume, wobei ihm seine internationale Bekanntheit behilflich war. Und er sah es als Herausforderung, „politische und ideelle Schwierigkeiten zu bewältigen.“