In ihrem dystopischen Roman „Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten“ schickt Emma Braslavsky eine künstliche Intelligenz auf die Spur eines Selbstmörders.
Erfolgreiche Roman- und Hörspielautorin
Die 1971 geborene Schriftstellerin Emma Braslavsky hat nicht nur bislang insgesamt vier von der Kritik ausgesprochen positiv aufgenommene Romane geschrieben – sie ist darüber hinaus die Erfinderin der Hörspiel-Reihe „Agent Zukunft“.
In diesem Projekt mit kalkuliert komischen Anklängen geht es um die großen Fragen der Menschheit, um geografische und ökonomische Verteilungskämpfe.
Mischung aus Kriminalroman und dystopischem Berlin-Porträt
Es ist also nicht verwunderlich, dass Emma Braslavskys neuer Roman „Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten“ eine Mischung aus Kriminalroman und dystopischem Berlin-Porträt geworden ist. Braslavsky schickt darin eine künstliche Intelligenz auf die Fährte eines Selbstmörders.
Beata ist herrenlos und nicht auf Liebe programmiert
Lennard hat Beata auf der Straße aufgelesen. Ein herrenloses Wesen, sitzen gelassen von ihrem Besitzer. Beata ist, gemäß den Wünschen ihres Erstbesitzers, nicht auf Liebe programmiert. Aber Beata ist eine wunderbare Köchin; sie hält die Wohnung ordentlich, putzt und ist darauf programmiert, mit Freundlichkeit und Geduld und ohne jeden Anflug von Eitelkeit und Ansprüchen zu dienen.
Jetzt ist Beata bei Lennard eingezogen. Der könnte sich so eine Beata niemals leisten, wenn er sie bezahlen müsste. Zudem sehnt Lennard sich nach Berührungen, nach Umarmungen, also nach dem, was Beata nicht zu geben in der Lage ist. Aber schon nach einem Monat Übung hat er sie immerhin so weit gebracht, dass ihre Lippen seine Lippen berühren.
Beata soll emotionale und praktische Lebenslücken füllen
Beata ist ein künstliches Wesen, wie es sie in dem von Emma Braslavsky entworfenen Romanszenario zu Tausenden in Berlin gibt. Ein technisch hoch entwickeltes Glücksversprechen. Eine Humansimulation, die einzig und allein zu dem Zweck bestellt und produziert wurde, die emotionalen und praktischen Lebenslücken ihres Besitzers zu füllen:
Unruhige Zeiten provozieren gesellschaftliche Negativentwürfe
Ach, denkt man, wieder einmal eine Dystopie. Ein Genre, das die deutschsprachige Gegenwartsliteratur in den vergangenen Jahren ausgiebig und nicht ohne Grund bearbeitet hat. Politisch und sozial unruhige Zeiten provozieren gesellschaftliche Negativentwürfe.
Emma Braslavsky ist es gelungen, dieser Reihe von Büchern einen lesenswerten Roman hinzuzufügen. Das hat zwei Gründe: Zum einen hat sie sich mit Themen wie Neurorobotik und künstliche Intelligenz so intensiv wie produktiv auseinandergesetzt. So hat sie beispielsweise an der multimedialen Konferenz „Morals & Machines“ teilgenommen, auf der die Zukunft des Menschen diskutiert wurde.
Braslavskys Sprache bewegt sich zwischen technokratischer Nüchternheit und romantisch beseelter Schwärmerei
Zum anderen, und das ist das Entscheidende, hat Braslavsky für ihren Stoff eine Sprache gefunden, die sich je nach Perspektive zwischen technokratischer Nüchternheit und romantisch beseelter Schwärmerei bewegt. Ihre Sprache ist anschaulich-sinnlich, auch wenn sie von vermeintlich Unsinnlichem erzählt.
Nicht umsonst lässt sie durch ihren Roman einen Hund streifen, der auf den Namen „Lord Byron“ hört. Der künstlich produzierte Mensch erscheint als entseelte Schreckensvision, aber auch für als eine Chance für den Großstadtmenschen, Einsamkeit und soziale Isolation zu überwinden.
Wir befinden uns in Berlin und in etwa im Jahr 2060. Das Kennenlernen und die Zweisamkeit zwischen Lennard und Beata bilden den Auftakt zu der eigentlichen Geschichte. Es dauert nur rund 30 Seiten, dann ist Lennard Fischer tot, ertrunken in einem See in der Nähe von Berlin. Eine Selbsttötung, eindeutig, und kein Einzelfall. Kurz zuvor hat sich bereits Lennards Nachbar umgebracht.
50 Selbstmorde pro Tag
Etwa 50 Menschen nehmen sich in Braslavskys Roman pro Tag das Leben. „Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten“ ist auch ein ambivalentes Porträt urbanen Lebens in der Zukunft. Die Kehrseite der pulsierenden, im vermeintlichen Aufgehobensein technischer Möglichkeiten erblühenden Stadt, ist ein Gefühl der überdrehten Hochstimmung. Es herrscht Endzeitatmosphäre:
Das Problem der vielen Selbsttötungen: die Beerdigungskosten
Die Selbsttötungen sind auch ein praktisches Problem für die finanziell heruntergewirtschaftete Stadt. Denn die Beerdigungskosten steigen stetig. Und immer seltener finden sich Angehörige, die sie übernehmen wollen oder können.
Die Polizei sucht Angehörige, die die Beerdigungskosten zahlen
Auftritt Roberta, herzlos, wie es im Roman heißt, und zugleich hochempfindlich. Roberta ist ein Versuchsmodell. Eine hoch spezialisierte Recheneinheit, die in den Rang einer Polizeikommissarin gehoben und einer Sondereinheit zugeteilt wird. Diese Einheit ist einzig und allein darauf spezialisiert, Verwandte von Selbstmördern aufzuspüren und der Kommune dadurch Kosten zu ersparen.
Roberta wird mit den Recherchen zu Lennards Tod beauftragt. Sie ist, was analytische Fähigkeiten und logische Schlüsse betrifft, den Menschen voraus. Andererseits aber ist das, was wir mit dem Wort „Identität“ umschreiben, bei Roberta eine Leerstelle, die auffüllbar ist durch Wahrnehmungen und Erfahrungen.
Anders gesagt: Erfährt sie Sexismus, entwickelt sie sexistische Züge. Darüber hinaus aber hat Roberta auf all das, was den Menschen als selbstverständlich und lebensstrukturierend erscheint, einen scharfen, unbeteiligten Blick. Das gilt für Geschlechtergrenzen im gleichen Maß wie für soziale Distinktionen, theologische Diskurse oder auch sinnliche Genusserfahrungen:
Die hoch spezialisierte Recheneinheit Roberta wird anfällig für Stimmungen
Entzauberung durch analytische Klarheit. Das ist das Roberta-Programm, mit dem sie in unerbittlicher Beharrlichkeit den desaströsen Verhältnissen in Lennards Familie nachspürt. Sie hat eine Aufgabe zu erfüllen, mehr nicht.
Zugleich aber geschieht etwas mit ihr, wird sie anfällig und erreichbar für Stimmungen. Und sie beginnt zu erkunden, woraus das menschliche Selbstbild in seinem Kern besteht: Aus der Suche nach einem anderen Menschen, mit dem sich eine Beziehung eingehen lässt, die in erster Linie über den Geist funktioniert.
Genau das aber ist es, was auch Roberta wieder und wieder in diversen Anpeilungsversuchen unternimmt: Verbindungen herzustellen, Zusammenhänge zu schaffen.
Wo löst sich die Grenze zwischen humanem Denken und künstlicher Intelligenz auf?
Emma Braslavskys Roman läuft zu keinem Zeitpunkt auf die plumpe Vision hinaus, dass Maschinen dereinst die besseren Menschen werden könnten. Aber er wirft in literarisch überzeugender Weise die Frage auf, inwieweit gerade in einer Epoche des radikalen Individualismus sich die Grenze zwischen humanem Denken und künstlicher Intelligenz aufzulösen beginnt.
Buchkritik Ian McEwan - Maschinen wie ich
Wir entwickeln Maschinen, um die Komplexität der Welt zu bewältigen, aber verstehen wir auch, was da entsteht? Und welchen Platz werden die Menschen künftig einnehmen? Ein Thesenroman von Ian McEwan.
Rezension von Brigitte Neumann.
Aus dem Englischen von Bernhard Robben
Diogenes-Verlag
ISBN 978-3-257-60958-5
25 Euro