Einsamkeit, Schuldgefühle, Wut - für Menschen, die nie im Gefängnis waren, ist es kaum vorstellbar, welche seelischen Qualen Häftlinge durchleiden und wie schwierig die Haftbedingungen sind. Genau hier setzt der Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis für Gefangene an: Er lädt die Inhaftierten zum Schreiben ein, will ihnen eine Stimme in der Öffentlichkeit geben.
Der Literaturpreis für Gefangene ist einzigartig in Deutschland und wird seit 1988 alle drei Jahre verliehen. Hauptinitiator ist der emeritierte Germanistikprofessor Helmut H. Koch, der den Strafvollzug in seiner heutigen Form sehr kritisch sieht. 1986 rief er an der Uni Münster die „Arbeitsstelle Randgruppenkultur und -literatur“ ins Leben.
Ende der 70er-Jahre kam Helmut H. Koch an die Uni Münster und bekam von Studierenden ein Flugblatt in die Hand gedrückt. Sie protestierten dagegen, dass die Institutsleitung ein Seminar über Gefängnis-Literatur verboten hatte. „Ein autoritärer Akt“, sagt der heute 83-Jährige, der ihn damals schockierte und zugleich berührte. „Das Thema hatte offenbar nicht die Würde, behandelt zu werden“, so Koch.
Widerstand gegen den akademischen Dünkel
Das Verbot spornte den Germanisten regelrecht an, sich zum ersten Mal in seinem Leben mit sogenannter Knast-Literatur zu beschäftigen. Koch war gerade aus Nicaragua zurückgekehrt, wo er die Arbeit des Befreiungstheologen und Revolutionärs Ernesto Cardenal kennen- und schätzen gelernt hatte.
Durch eine große Alphabetisierungkampagne wollte Cardenal den Armen in Nicaragua eine Stimme geben - eine Idee, die Helmut H. Koch für seine eigene Arbeit inspirierte.
In Deutschland war zwischen 1969 und 1975 das Strafrecht reformiert worden, in der Öffentlichkeit gab es viele Kontroversen um den Strafvollzug und die Zustände in den Gefängnissen. Deshalb interessierten sich damals viele Studierende für das Thema Gefangenenliteratur, so Koch, auch etliche aus anderen Fachbereichen wie Jura, Theologie oder Sozialpädagogik .
Forschungsgegenstand muss erst beschafft werden
Helmut H. Koch blieb beharrlich: Schließlich gelang es ihm, selbst ein Seminar zur Gefangenen-Literatur anzubieten. Gemeinsam mit den Studierenden schrieb er Haftanstalten an und bat um Texte, die dort entstanden seien. Sie erhielten Gefängnis-Zeitungen und -Zeitschriften, die sie sammelten und genauer untersuchten. Immer wieder waren sie erstaunt „über die Qualität des Geschriebenen“.
Helmut H. Koch baute die Forschung zur Gefangenenliteratur aus. Er betreute eine Reihe von Dissertationen, zum Beispiel das mehr als 600 Seiten starke Grundlagenwerk „Schreiben, um zu überleben“ seiner langjährigen Mitarbeiterin Nicola Keßler. Für diese Doktorarbeit gab es sogar prominente Unterstützung: Der Schriftsteller Martin Walser schrieb das Geleitwort.
Sonderbereich zu, aber Literaturpreis lebt weiter
20 Jahre lang machte sich Helmut H. Koch für die „Knastliteratur“ stark, hielt Gastvorträge, schrieb Bücher und baute an der Uni Münster ein umfangreiches Archiv zur Gefangenenliteratur und Gefangenenzeitungen auf. 2007 wurde sein Sonderbereich geschlossen – ohne Nachfolge.
Auch heute noch sitzt der Germanist in der Jury des Ingeborg-Drewitz-Literaturpreises für Gefangene. Mittlerweile hat er 12 Anthologien mit herausgegeben, in denen die prämierten Texte abgedruckt sind.
Welche Bedeutung der Preis für die Menschen in den Gefängnissen haben kann, zeigt das Beispiel von Maximilian Pollux. Der 41-Jährige war selbst viele Jahre in Haft und arbeitet heute als Autor, Podcaster und Anti-Gewalttrainer in Mainz.
Er erinnert sich an den Glücks-Moment, als er 2011 als Preisträger ausgewählt wurde: „(...) dieses eine Mal, als ich ein Gewinner war, als ich von außen gesehen und wertgeschätzt wurde, hat mein ganzes Leben zum Positiven verändert.“