Gefängnis-Literatur

„Schreiben, um zu überleben“: Authentische Texte aus dem Knast

Stand
Autor/in
Hannegret Kullmann
Hannegret  Kullmann, Autorin bei SWR Kultur

Das Schreiben hat für Menschen im Strafvollzug oftmals therapeutische Funktion. Durch die Veröffentlichung ihrer Texte erhalten sie die Chance, auch außerhalb der Gefängnismauern wahrgenommen und gehört zu werden.

Treppenhaus mit Netzen in Gefängnis
Der Gefängnis-Alltag ist für die meisten Häftlinge zermürbend: Identität und Gefühlswelt geraten ins Wanken.

Einsamkeit, Schuldgefühle, Wut - für Menschen, die nie im Gefängnis waren, ist es kaum vorstellbar, welche seelischen Qualen Häftlinge durchleiden und wie schwierig die Haftbedingungen sind. Genau hier setzt der Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis für Gefangene an: Er lädt die Inhaftierten zum Schreiben ein, will ihnen eine Stimme in der Öffentlichkeit geben.

Der Literaturpreis für Gefangene ist einzigartig in Deutschland und wird seit 1988 alle drei Jahre verliehen. Hauptinitiator ist der emeritierte Germanistikprofessor Helmut H. Koch, der den Strafvollzug in seiner heutigen Form sehr kritisch sieht. 1986 rief er an der Uni Münster die „Arbeitsstelle Randgruppenkultur und -literatur“ ins Leben.

Germanist Helmut H. Koch im Gespräch mit Rainer Wick (Chance e.V.)
Der Germanist Helmut H. Koch (links) im Gespräch mit Rainer Wick (Chance e.V.) bei der Preisverleihung 2024 in Münster.

Ende der 70er-Jahre kam Helmut H. Koch an die Uni Münster und bekam von Studierenden ein Flugblatt in die Hand gedrückt. Sie protestierten dagegen, dass die Institutsleitung ein Seminar über Gefängnis-Literatur verboten hatte. „Ein autoritärer Akt“, sagt der heute 83-Jährige, der ihn damals schockierte und zugleich berührte. „Das Thema hatte offenbar nicht die Würde, behandelt zu werden“, so Koch.

Widerstand gegen den akademischen Dünkel

Das Verbot spornte den Germanisten regelrecht an, sich zum ersten Mal in seinem Leben mit sogenannter Knast-Literatur zu beschäftigen. Koch war gerade aus Nicaragua zurückgekehrt, wo er die Arbeit des Befreiungstheologen und Revolutionärs Ernesto Cardenal kennen- und schätzen gelernt hatte.

Durch eine große Alphabetisierungkampagne wollte Cardenal den Armen in Nicaragua eine Stimme geben - eine Idee, die Helmut H. Koch für seine eigene Arbeit inspirierte.

Mehrere Bände des Strafgesetzbuches in einem Regal
In den 70er-Jahren gab es in Deutschland eine hitzige Debatte über die Strafrechtsreform. Das öffentliche Interesse am Thema Gefängnis war groß.

In Deutschland war zwischen 1969 und 1975 das Strafrecht reformiert worden, in der Öffentlichkeit gab es viele Kontroversen um den Strafvollzug und die Zustände in den Gefängnissen. Deshalb interessierten sich damals viele Studierende für das Thema Gefangenenliteratur, so Koch, auch etliche aus anderen Fachbereichen wie Jura, Theologie oder Sozialpädagogik .

Forschungsgegenstand muss erst beschafft werden

Helmut H. Koch blieb beharrlich: Schließlich gelang es ihm, selbst ein Seminar zur Gefangenen-Literatur anzubieten. Gemeinsam mit den Studierenden schrieb er Haftanstalten an und bat um Texte, die dort entstanden seien. Sie erhielten Gefängnis-Zeitungen und -Zeitschriften, die sie sammelten und genauer untersuchten. Immer wieder waren sie erstaunt „über die Qualität des Geschriebenen“.

Ein Gefangener sitzt am Computer und schreibt für eine Gefängniszeitung.
Ein Inhaftierter in der Justizvollzuganstalt Bützow arbeitet an der Gefängniszeitung „Fidelio“ (Foto aus dem Jahr 2000).

Helmut H. Koch baute die Forschung zur Gefangenenliteratur aus. Er betreute eine Reihe von Dissertationen, zum Beispiel das mehr als 600 Seiten starke Grundlagenwerk „Schreiben, um zu überleben“ seiner langjährigen Mitarbeiterin Nicola Keßler. Für diese Doktorarbeit gab es sogar prominente Unterstützung: Der Schriftsteller Martin Walser schrieb das Geleitwort.

Sonderbereich zu, aber Literaturpreis lebt weiter

20 Jahre lang machte sich Helmut H. Koch für die „Knastliteratur“ stark, hielt Gastvorträge, schrieb Bücher und baute an der Uni Münster ein umfangreiches Archiv zur Gefangenenliteratur und Gefangenenzeitungen auf. 2007 wurde sein Sonderbereich geschlossen – ohne Nachfolge.

Auch heute noch sitzt der Germanist in der Jury des Ingeborg-Drewitz-Literaturpreises für Gefangene. Mittlerweile hat er 12 Anthologien mit herausgegeben, in denen die prämierten Texte abgedruckt sind.

Häftling betrachtet in Bibliothek zwei Bücher
In der Gefängnisbibliothek der JVA Münster betrachtet ein Häftling das Buch "Wenn Wände erzählen könnten" mit Texten der Ingeborg-Drewitz-Preisträger 1999.

Welche Bedeutung der Preis für die Menschen in den Gefängnissen haben kann, zeigt das Beispiel von Maximilian Pollux. Der 41-Jährige war selbst viele Jahre in Haft und arbeitet heute als Autor, Podcaster und Anti-Gewalttrainer in Mainz.

Er erinnert sich an den Glücks-Moment, als er 2011 als Preisträger ausgewählt wurde: „(...) dieses eine Mal, als ich ein Gewinner war, als ich von außen gesehen und wertgeschätzt wurde, hat mein ganzes Leben zum Positiven verändert.“

Auszeichnung für Texte von Strafgefangenen Ingeborg-Drewitz-Preis für Gefangenenliteratur: „Schuld – Tinnitus der Seele“

Wie gehen Strafgefangene mit der Last ihrer Schuld um? Das ist das Thema von 17 Texten in dem Buch „Schuld – Tinnitus der Seele“.

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