Vor 100 Jahren ist der "Ulysses" von James Joyce erschienen. SWR2 wiederholt aus diesem Anlass seine vielfach gerühmte gut 23-stündige Hörspielfassung in 18 Teilen. Das Meisterwerk der klassischen Moderne läutet eine Zeitenwende in der Romanliteratur ein: In 18 Kapiteln wird aus verschiedenen Perspektiven und über zahlreiche Stilregister ein Tag in Dublin erzählt.
Alle 18 Folgen können bis zum 16. Juni 2023 („Bloomsday“) auf dieser Seite, in der ARD Audiothek und in der SWR2 App angehört werden.
Mit: Manfred Zapatka, Dietmar Bär, Jens Harzer, Birgit Minichmayr, Corinna Harfouch, Ernst Stötzner, Sepp Bierbichler, Thomas Thieme, Wolfram Koch, Milan Peschel, Bibiana Beglau u. v. a.
Hörspiel nach dem gleichnamigen Roman von James Joyce
aus dem Englischen von Hans Wollschläger
Hörspielbearbeitung, Musik und Regie: Klaus Buhlert
SWR/DLF 2012
Weitere Informationen zum Hörspiel finden Sie über diesen Link oder weiter unten.
Weiterführende Informationen:
Infos zu den Kapiteln
Kapitel 1: Telemachos
Szene Martello Tower am Strand von Sandycove, Dublin • Uhrzeit 8.00 Uhr
16. Juni 1904, es ist acht Uhr morgens. Der Medizinstudent und Möchtegern-Schriftsteller Buck Mulligan rasiert sich auf der Brüstung des alten Wehrturms am Strand von Sandycove im Süden Dublins. Mit einem Oxfordstudenten, dem Engländer Haines, bewohnen er und Stephen Dedalus den Tower. Der junge Dichter und Gelehrte Stephen arbeitet als Aushilfslehrer in einem College. Er hat sein Medizinstudium in Paris abgebrochen und ist wegen seiner im Sterben liegenden Mutter nach Dublin zurückgekehrt. Beim gemeinsamen Frühstück zeigen sich Spannungen zwischen den Martello-Bewohnern, die chronisch pleite sind. Stephen missfallen das überhebliche, typisch englische Kolonialisten-Verhalten von Haines sowie Mulligans Blasphemien und Sticheleien. So zieht Mulligan den Atheisten Stephen immer wieder damit auf, seiner Mutter am Sterbebett Gebet und Segen verweigert zu haben. Die drei frühstücken, bleiben dabei der alten Frau, die ihnen die Milch bringt und bei Joyce die Verkörperung Irlands ist, einen Teil des Geldes schuldig und verlassen den Turm. Haines will in die Nationalbibliothek, Mulligan nimmt ein Bad im Meer, nicht ohne zuvor Stephen den Schlüssel zum Tower und noch zwei Pence abgeknöpft zu haben. Sie verabreden sich gegen die Mittagszeit in einem Pub im Dubliner Zentrum, wenn Stephen seinen Lohn als Lehrer erhalten haben sollte.
Im ersten Buch von Homers "Odyssee" haben sich im Palast um Penelope die Freier breit gemacht, verprassen den Besitz und erniedrigen Telemachos, den Sohn des Odysseus. Dieser will dem Spuk ein Ende bereiten und Nachforschungen über seinen verschollenen Vater anstellen. Gleich Telemachos macht Stephen sich alleine auf den Weg durch Dublin, um seinem Dasein eine neue Form zu geben. Später findet er in Leopold Bloom seinen Vater im Geiste.
Joyce erzählt in einer realistischen Erzählhaltung, die mit kurzen Passagen im inneren Monolog von Stephen durchsetzt ist.
Kapitel 2: Nestor
Szene College im Dorf Dalkey bei Dublin • Uhrzeit 10.00 Uhr
Stephen unterrichtet zerstreut und gelangweilt in einem Privatcollege Geschichte. Sie ist diesem Kapitel thematischer Bezugspunkt.
Doch die Schüler interessieren sich offensichtlich nicht für Schlachten und Heroen, lesen einfach die Antworten aus Büchern ab. Als Stephen keine Lust mehr hat auf seine vergebliche Liebesmühe, stellt er den Jungen ein Nonsens-Rätsel und verliert sich in Erinnerungen an seine Pariser Bohème-Zeit. Mit dem Ende der Stunde ist für die Schüler das ersehnte Hockeyspiel angesagt, nur der schüchterne Cyril Sargent, der Stephen an seine eigene Schulzeit erinnert, bleibt in der Klasse und bittet um Hilfe in Mathematik. Stephen geht ins Büro des Schuldirektors Garett Deasy, um sein Gehalt abzuholen. Der magere Lohn wird ihm ausgezahlt. Dabei spannt ihn Deasy sogleich für seine Zwecke ein: Stephen soll seine guten Beziehungen zur Presse nutzen und einen Leserbrief dort unterbringen. Es geht um die Maul- und Klauenseuche, die England als Vorwand nutzt, um Exporte aus Irland mit einem Embargo zu versehen. Mit antisemitisch gefärbten Ermahnungen zu sparsamer Lebensführung entlässt Mr. Deasy Stephen.
Dieses Kapitel spielt mit der – im Unterschied zu Kapitel 17 – in personaler
Erzählhaltung genutzten Technik der Unterweisung, des Katechismus, der in der Schule wie im Leben gelten soll.
In der "Odyssee" befragte Telemachos bei der Suche nach seinem Vater den alten blinden König Nestor. Der wusste zwar viel zu reden, aber nichts über den Verbleib von Odysseus. Ähnlich ergeht es Stephen mit Mr. Deasy, der sich als alles andere denn einen weiser Ratgeber entpuppt.
Kapitel 3: Proteus
Szene Strand von Sandymount in Dublin• Uhrzeit 11.00 Uhr
Es bleibt noch Zeit für Stephen Dedalus bis zur Verabredung mit Mulligan um 12.30 Uhr. Allein am Strand überlässt er sich dem Auf und Ab seines Gedankenstroms und erinnert sich erneut an seine Bohème-Zeit in Paris, nicht zuletzt an den Zeitpunkt der Rückkehr nach Dublin wegen der Erkrankung seiner Mutter. Plötzlich irritieren Stephen zwei Frauen am Strand, dann stellt er sich vor, wie ein Besuch bei seinem Onkel, Richie Goulding, ausfallen würde, der die Familie durch seinen Alkoholismus tyrannisiert. Er fühlt sich allein. Auch der irische Nationalist Kevin Egan, den er in Paris getroffen hatte, ist ihm kein Vorbild. Ein mit einem Tierkadaver spielender Hund veranlasst ihn über den Sinn des Lebens nachzudenken. Schließlich wird ihm der Anblick des Meeres, in deren Fluten jeder unfreiwillig wie freiwillig ertrinken könne, zu einer Epiphanie, die ihm Gedichtzeilen entlockt.
Das Kapitel ist hauptsächlich im inneren Monolog geschrieben, der Erzähler rahmt nur die Situation. Gleich dem Meergott Proteus, der ein Meister der Gestalt-Verwandlung ist, wenn er unerwünschten Fragen entkommen möchte, mäandern Stephens. Wie er sein bisherigen Leben beurteilen soll, wie seine Zukunft, ist ihm unklar.
Hiermit endet die dreiteilige Sohnesgeschichte, die in Homers "Odyssee" als Telemachie bezeichnet wird.
Kapitel 4: Kalypso
Szene Zuhause, Eccles Street 7 • Uhrzeit 08.00 Uhr
Wechsel im "Ulysses" der Szenerie und der Protagonisten: Auch beim Anzeigenverkäufer Leopold Bloom in der Eccles Street 7 beginnt der Tag um 8 Uhr morgens. Dieser 40jährige Ire ungarisch-jüdischer Herkunft bereitet in der Küche sorgsam das Frühstück für seine Frau Marion, genannt "Molly". Bloom isst gerne Innereien. Nachdem er die schwarze Katze mit Milch versorgt hat, bekommt er Appetit und geht aus dem Haus, nicht ohne zuvor seine Frau nach ihren Wünschen zu fragen. Sie schläft weiter. Es kündigt sich ein schöner Tag an. Bloom schwitzt, denn er trägt schon schwarz für die Beerdigung von Paddy Dignam. Auf dem Weg zum Metzger, wo er eine Niere erwirbt, taxiert er die Umgebung nach ihrem ökonomischen Wert, verliert sich in Tagträumen über die Faszination des Fernen Osten, sowie über die erwachende Sexualität eines vor ihm laufenden Mädchens. Auf dem Rückweg betrübt ihn der Gedanken an weibliche Untreue, die Leiden der Juden, die Ödnis der Wüste und die eigene Vergänglichkeit. Zuhause zurück brät er die Niere und bringt Molly Frühstück und Post. Ein Brief, den sie unter ihr Kopfkissen schiebt, stammt von Blazes Boylan. Er ist adressiert an "Mrs. Marion Bloom" – und nicht wie es sein müsste an "Mrs. Leopold Bloom". Boylan ist ihr Konzertmanager – und Bloom vermutet auch ihr Liebhaber. Er kündigt sich für 16 Uhr an, um Lieder wie "Seaside Girl", "Love’s Old Sweet Song" oder Arien aus dem "Don Giovanni" einzustudieren. Bloom duldet stillschweigend Mollys Affairen, aber der Gedanke an ihr Stelldichein lässt ihn den Tag über nicht mehr los.
Schließlich ruft der Geruch der angebrannten Niere Bloom vom Schlafzimmer zurück in die Küche. Sie schmeckt ihm trotzdem und liest dabei den Brief seiner Tochter Milly. Sie geht außerhalb Dublins in die Lehre und hat einen Studenten kennen gelernt. Am Ende des Kapitels erleichtert sich Bloom genüsslich mit einer Zeitung im Klohäuschen. Der Glockenschlag der George’s Church erinnert ihn an Dignams Beerdigung.
Odysseus ist nach seinem Schiffbruch gefangen auf der Insel der Nymphe Kalypso. Er verlässt sie und kehrt zurück nach Ithaka, zu Penelope. Wie die Nymphe Odysseus bestimmt Molly die Gedanken ihres Mannes. In der Nacht, bei Blooms Rückkehr, wird sie aber Penelope sein. Joyce beschreibt in klassischer Erzählhaltung den Alltag von Leopold Bloom. Er nutzt den inneren Monolog, um Bloom aus subjektiver Perspektive zu charakterisieren.
Kapitel 5: Lotophagen
Szene Bad • Uhrzeit 10.00 Uhr
Ein Stunde bleibt noch bis zur Beerdigung von Dignam. Bloom begibt sich auf seine Reise durch Dublin, vorbei an ärmlichen Kindern, verlotterten Hütten, exquisiten Teeläden. Er geht zuerst zur Post, wo er ein Fach unter dem Pseudonym "Henry Flower" führt, über das er eine heimliche Brieffreundschaft mit Martha Clifford pflegt. Mit ihr assoziiert er die Titelarie aus Flotows Oper "Martha". Auf der Straße trifft er M’Coy, der ihn nach Molly befragt und ihm dadurch ihre vermutete Untreue wieder ins Gedächtnis ruft. Unter einem Vorwand lässt er ihn stehen und liest endlich Marthas Brief, dem eine getrocknete Blume beigelegt ist. Der vorsichtige Bloom möchte sich jedoch auf keine Liaison einlassen. Gleichwohl bemerkt er beim Weitergehen überall sexuell aufgeladene Werbeanzeigen.
Plötzlich gedenkt er des Selbstmordes seines Vaters und besucht eine katholische Messe, deren lateinisch gehaltenen Rituale ihn als Jude faszinieren wie zuwider sind. Anschließend lässt er in Mr. Swenys Drogerie eine Gesichtslotion für Molly anfertigen und gönnt sich ein Stück gut riechende Zitronenseife für den Besuch im öffentlichen Bad. Bantam Lyons stoppt ihn auf der Suche nach einem Tipp fürs Pferderennen in Ascot. Als Bloom ihm seine Tageszeitung, den "Freeman", überlässt, missversteht Lyons dies als Tipp und geht erfreut weiter. Im türkischen Band ergötzt sich Bloom an der Betrachtung seines Körpers – und schläft ein.
Wie die Gefährten des Odysseus im Land der Lotosesser, der narkotisierenden Kraft der Lotus-Frucht willenlos erliegen, begleiten hier Drogen Leopold Bloom auf seinem Weg. Sie locken in Gestalt von Werbung, katholischem Ritual, Blumen, Tee oder Körperpflege.
Kapitel 6: Hades
Szene Friedhof • Uhrzeit 11 Uhr
Um 11 Uhr trifft Bloom vor dem Haus des verstorbenen Paddy Dignam seine Bekannten Martin Cunningham, Jack Power und Simon Dedalus, den Vater von Stephen. In der Kutsche folgen sie dem Sarg durch Dublin zur Beisetzung. Während der Fahrt ins "Reich der Toten" über vier Dubliner Wasserwege – gleich den vier Flüssen des Hades – erblickt Bloom plötzlich Stephen. Simon schimpft über ihn und dessen schlechte Bekanntschaften wie Mulligan. Blooms Gedanken schweifen zu seinem, elf Tage nach der Geburt verstorbenen Sohn Rudy, zum Suizid seines eigenen Vaters oder der Ähnlichkeit von Molly und Milly in ihrer früh erwachenden Sexualität.
Vorbei an Gaswerk, Oper, Denkmälern und Straßenzügen drehen sich die Gespräche in der Kutsche vorwiegend um Alltagsgeschichten aus dem Stadtleben und Sterbensarten. Als die vier den Friedhof erreichen, ist Dignams Sarg längst vor Ort. Die Trauergäste bedrücken die ärmlichen Verhältnisse, in denen Dignam seine Frau und Kinder zurückgelassen hat. Die christliche Zeremonie kommentiert und ironisiert Bloom, er profanisiert sie. So stemmt er sich gegen einen Schwermutsanfall bei Gedanken an den Tod und bejaht schließlich seinen eigenen Lebensentwurf. Am Ende des Begräbnisses begegnet Bloom dem eingebildeten Mr. Menton, ein ehemaliger Verehrer von Molly, mit dem er sich vor Jahren siegreich geprügelt hatte.
Joyce weist seine Erzähltechnik als "Inkubismus" aus, ein Neologismus aus "Kubismus" und "Inkubus", den Alpträume verursachenden Dämon. Einfacher formuliert, erzählt er in "Hades", wie eine Dubliner Herrenrunde sich mit dem Tod auseinandersetzt.
Kapitel 7: Aiolos
Szene Zeitung • Uhrzeit 12 Uhr
Am Verkehrsknotenpunkt vor der Nelson-Säule befinden sich die Redaktionsräume der beiden regionalen Tageszeitungen "Freeman" und "Telegraph". Dem atemlosen Lärm des Verkehrs entspricht im Inneren das Geröchel der Druckmaschinen. Bloom versucht, zuerst bei Red Murray, dann beim Setzer Nannetti eine Annonce des Getränkehändlers Alexander Keyes zu schalten. Da seinen Änderungswünschen nur zugestimmt wird, wenn die Anzeige auf drei Monate verlängert wird, will er sich mit ihm telefonisch verständigen. Währenddessen taucht Stephen auf. Er will zur allgemeinen Heiterkeit den Artikel des Schulleiters Mr. Deasy über die Maul- und Klauenseuche unterbringen, lässt sich dann beim Chefredakteur Crawford auf eine Diskussion über irische Redner ein und zieht mit den Disputanten ins "Mooney’s", obgleich Mulligan und Haines auf ihn im "Ship" warten. Bloom kann die Anzeige nicht unterbringen und muss ihre Vorlage - zwei Schlüssel – in der Bibliothek prüfen.
Wie die Stürme von Aiolos, des Herrschers der Winde, Odysseus kurz vor Ithaka wieder auf die Irrfahrt schicken, so gelingt auch hier in den Wirren des laut atmenden Journalismus keine wirkliche Begegnung von Stephen und Bloom. Niemand erreicht hier sein Ziel – weder die Protagonisten noch die Zeitungsmeldungen in ihren enthymischen, d.h. unvollständigen Redefiguren.
Die Kunst des Kapitels ist die »windige« Rhetorik, die das Geschehen wie chorische Schlagzeilen vor jedem Abschnitt überhöht.
Kapitel 8: Laistrygonen
Szene Mittagessen • Uhrzeit 13 Uhr
Es ist Mittagszeit, Nahrungsaufnahme ist angesagt. Auf der zögernden, der peristaltischen Bewegung der Verdauungsorgane gleichenden Suche nach einem Mittagstisch quert Bloom zahlreiche Straßen und führt seine Gedanken im Treiben der Stadt spazieren. Sie drehen sich um Dubliner Architektur, Blutopfer, Essensgewohnheiten und die Pfründe der Kirche. Er wirft den Brief von Martha weg, will ihr später antworten und trifft Mrs. Breen, die sich nach Molly erkundigt. Er verspricht, die in den Wehen liegende Mrs. Purefoy im Hospital zu besuchen. Beim Blick in Burtons Restaurant widern ihn die "Esser ohne Manieren" an. Erst in Davy Byrnes Pub kommt er zur Ruhe und bestellt sich ein Gorgonzolasandwich mit Senf und ein Glas Burgunder. Auch der leicht heruntergekommene Nosey Flynn isst hier. Beide reden über das Pferderennen und Mollys Konzert. Bloom macht sich auf den Weg und Flynn erzählt Byrne, dass es dem Juden nur deshalb so gut gehe, weil er den Freimaurern angehöre. Als Bloom auf der Straße einem blinden Jungen hilft, fällt ihm – wie Stephen im »Proteus« Kapitel – die perspektivische Bezogenheit der Wahrnehmung von Welt auf. Schließlich macht er sich auf den Weg, die Logovorlage der zwei Schlüssel für die Keyses-Anzeige in der Bibliothek zu prüfen, gerät aber aus der Fassung, als er Boylans Hut in der Ferne erkennt.
Im Reich der Laistrygonen, dem Volk der menschenfressenden Riesen, wird viel gegessen. In Dublin frönen die Helden auch mehr oder weniger kulinarischen Genüssen und käuen dabei noch Lebensweisheiten und Weltanschauungen wieder.
Kapitel 9: Skylla und Charybdis
Szene Bibliothek • Uhrzeit 14 Uhr
Es ist 14 Uhr. In der Nationalbibliothek diskutiert eine Gruppe etablierter Dubliner Intellektueller mit Stephen über Literatur. Sie ist diesem Kapitel der anspielungs-reiche Bezugspunkt. Joyce versucht dabei erzähltechnisch die Personenkonflikte und Motive dialektisch, über das Aufeinanderprallen von These und Antithese, zu entwickeln.
Stephen sieht sich selbst in Shakespeare gespiegelt: Wie dieser sich zwischen der Metropole London und dem kleinstädtischen Stratford entscheiden musste, so sieht Stephen sein Leben zerrissen zwischen Paris als Zentrum der Kunst und dem provinziellen Dublin. Und soll er überhaupt hier um Anerkennung ringen? Dieser ambivalente Konflikt bedroht ihn – wie Odysseus die Meerenge von Skylla und Charbydis. Stephen will ihn überwinden, indem er seine Zuhörer eloquent provoziert. Er leitet in theatralischem Gestus und wie ein dialektisch argumentierender Sophist Shakespeares »Hamlet« aus der Biografie des Dramatikers ab. Die Runde, zu der sich später Mulligan gesellt, ist beeindruckt, wenn auch nicht überzeugt. Beiläufig räumt Stephen am Ende ein, seine Theorie selbst nicht zu glauben. Als er und Mulligan die Bibliothek verlassen, kommt ihnen Bloom auf der Treppe entgegen. Erstmalig begegnen sich flüchtig Stephen und Bloom. Mulligan hatte Bloom zuvor beim Studium von Aphrodites Hintern beobachtet und lästert nun über diesen Po-fixierten Juden. Dadurch weckt er Stephens Interesse an ihm – denn beide sind Außenseiter.
Kapitel 10: Irrfelsen
Szene Straßen • Uhrzeit 15 Uhr
Die Meerenge der Irrfelsen, die nur der Argonaut Jason durchquerte und die bei Homer nur Erwähnung finden, nutzt Joyce als mythologische Vorlage für 18 Episoden und eine Coda. In diesem Kapitel sind alle Dubliner die Protagonisten. Sie »irren« gleich wandernden Felsen und wie von einer geheimen Mechanik gezogen durch das Stadtlabyrinth.
Joyce verknüpft über eine Montagetechnik ihre Wege, Handlungen und Bewusst-seinsströme: Da ist Pater Conmee, der Dignams Sohn im Waisenhaus anmelden will und von der Christianisierung der heidnischen Seelen Afrikas träumt; da ist ein betrunkener Seemann, er grölt ein Lied wider England und ihm wirft Molly eine Münze aus dem Fenster zu; da sind die Schwestern Stephens, sie versuchen in Geldnot seine Bücher zu versetzen und holen ihren, dem Trunk ergebenen Vater aus dem Pub; und da ist Boylan, der für das Rendezvous um 16 Uhr vorab Molly einen Früchtekorb schickt; oder Stephen, er trifft seinen früheren Italienisch-Lehrer Artifoni und hat Gewissenbisse angesichts der armseligen Existenz seiner Schwestern; M’Coy und Lenehan verabreden sich im Ormond Hotel mit Boylan und reden über Lyons Wette; Bloom ist auf der Suche nach einem erotischen Buch für Molly; Martin Cunningham sammelt Geld für die Familie Dignam; Mulligan und Haines reden über Stephens beeindruckenden Intellekt, aber doch mangelnde künstlerische Begabung; und Dignams Sohn kann nur schwer Trauer über seinen toten Vater empfinden. Sie alle streift am Ende die Stadtfahrt der vizeköniglichen Kavalkade mit dem Repräsentanten Englands.
Kapitel 11: Sirenen
Szene Konzerthalle • Uhrzeit 16 Uhr
Wen der Gesang der Sirenen an ihre Gestade lockt, dessen Schiff zerschellt. Odysseus kann ihnen nur am Mast festgebunden widerstehen, während er seinen Gefährten die Ohren verstopft. Als Prolog montiert Joyce einen klangpoetisch verdichteten Text aus den Sätzen, Motiven und Geräuschwörtern des Kapitels. Die Sirenen selbst personifizieren die Bardamen Miss Kennedy und Miss Douce des Ormond Hotels. Bloom sieht zufälligerweise zum dritten Mal auf der Straße Boylan, dem er in die Hotelbar folgt. Boylan ist eigentlich auf 16 Uhr mit Molly verabredet. Er und Lenehan lassen sich aber auf einen Flirt mit den beiden Damen ein und können Miss Douce sogar überreden, ihr Strumpfband gegen die Schenkel klatschen zu lassen. Boylan hat es beim Blick auf die Uhr eilig und geht – zu Molly. Bloom weiß das, bleibt zurück, sitzt neben Richie Goulding, dem Onkel Stephens, und schreibt Martha Clifford einen Brief, bevor er die Bar verlässt. Musik ist die Kunst dieses Kapitels. Von und über Musik wird geredet und erzählt, aber hier spielt auch Pater Cowley Klavier, Simon Dedalus singt virtuos die Arie "M’appari" aus Flotows "Martha" und Ben Dollard, den irische Traditional "The Croppy Boy". Die Lieder handeln von unglücklicher Liebe und einem von den Briten erhängten Bauernjungen.
Die Erzählstruktur des Textes selbst nutzt musikalische Techniken wie Fuge und Kanon, mit denen Joyce Handlung und Figuren in Szene setzt.
Kapitel 12: Kyklop
Szene Kneipe • Uhrzeit 17.00 Uhr
In angeberisch-grobschlächtiger Sprache berichtet ein namenloser Ich-Erzähler von seinem Treffen mit Joe Hynes in Barney Kiernans Pub. Sie reden über einen jüdischen Händler, dem ein Freund von ihnen die Rückzahlung seiner Schulden zu Recht verweigerte. Mit Gleichgesinnten vertrinken beide Joes Wettgewinn vom Pferderennen. Bloom wartet derweil draußen auf Martin Cunningham, um gemeinsam der Witwe Dignam zu helfen, die Lebensversicherung ihres Mannes einzuklagen. Als Bloom den Pub betritt, um ihn dort zu suchen, lässt er sich in das Kneipengespräch über Dignam und die Todesstrafe ziehen. Plötzlich macht das Gerücht die Runde, er habe viel Geld beim Rennen gewonnen. Von da an werden seine abwägenden und nüchternen Einwände von der schwadronierenden Runde misstrauisch beäugt. Als das Gespräch sich tagespolitischen Themen zuwendet, gerät Bloom ins Visier des "Bürgers", eines für die irische Unabhängigkeit eintretenden Feniers, auf deren Ideologie das Kapitel sich symbolisch bezieht. Dessen Hund könne, so der "Bürger", geizige Juden nicht riechen, als das Tier Bloom beschnüffelt. Bloom sieht sich gezwungen, sich als Ire zu erkennen zu geben, fügt aber heroisch hinzu: mosaischer Abstammung – und verlässt den Raum. Währenddessen trifft der nichts ahnende Cunningham ein und beantwortet Nachfragen zu Bloom. Die antisemitische Stimmung eskaliert durch den "Bürger", als Bloom zurückkehrt. Cunningham und er können nur mit einer Kutsche dem aufgebrachten Mob entfliehen.
Bloom gerät hier wie Odysseus ins Land der "einäugigen" unzivilisierten Riesen – der Kyklopen, mit dem "Bürger" als Polyphem. Odysseus wie Bloom bringen sich selbst durch Nennung ihrer Herkunft in Gefahr.
Joyce bedient sich dabei der von ihm so benannten literarischen Technik des "Gigantismus": Der Erzählfluss des prahlerischen Ich-Berichts wird immer wieder von Einschüben durchbrochen. Diese persiflieren Diskurse der Journaille über irische Sagen und Mythen, nationale Legendenbildung und literarische wie poltische Diskurse.
Kapitel 13: Nausikaa
Szene Felsen am Strand von Sandymount • Uhrzeit 20.00 Uhr
Im Nausikaa-Kapitel strandet Odysseus auf der Insel des Königs Alkinoos. Dessen Tochter Nausikaa vertreibt sich dort mit ihrem Gefolge beim Ballspiel die Zeit. Sie hat keine Angst vor dem plötzlich auftauchenden Fremden, der ihre Schönheit preist, und nimmt ihn mit in den Palast, wo er sich schließlich als lang vermissten Herrscher von Ithaka zu erkennen gibt. In der malerischen Abenddämmerung spaziert die schöne Gerty MacDowell, begleitet von den Freundinnen Edy Boardmann und Cissy Caffrey mit ihren jüngeren Geschwistern, am Strand von Sandymount.
Morgens machte hier Stephen seinen Spaziergang. Gerty, Tochter nicht eines Königs, sondern eines Trinkers, gibt sich ihren Träumen von der großen Liebe hin. Zur gleichen Zeit findet eine Messe in der nahegelegenen kleinen Kirche statt. Da bemerkt Gerty zwischen den Felsen einen Fremden. Bloom sucht dort Ruhe, nachdem er dem Bürgermob entkam. Gerty lässt ihre Freundinnen weitergehen und bleibt allein zurück unter den ihrer Schönheit bewundernden Blicken von Bloom. Es beginnt eine einvernehmliche Verführungsszene aus der Distanz.
Parallel zum Verlauf der Messe, die mit dem Beginn eines Feuerwerks endet, wird das Geschehen zuerst aus Gertys Perspektive im Stile viktorianischer Trivialromane ausgemalt. Danach wechselt die Erzählhaltung zum inneren Monolog Blooms mit sexuell expliziterer Sprache. Gerty weiß, dass Bloom sie beobachtet, von ihr sexuell erregt ist und onaniert. Sie entblößt mehr und mehr ihre Reize. Als sie Bloom schließlich ihren Schoß zeigt, überschneidet sich Blooms sexueller Höhepunkt mit dem Ende des Feuerwerks.
Das Spektakel ist vorbei. Gerty geht. Mitleidig bemerkt Bloom, dass sie hinkt. Er lässt das Geschehen des Tages nochmals an sich vorbeiziehen, der Ruf einer Kuckucksuhr zur vollen Stunde erinnert ihn erneut an Mollys vollzogenen Ehebruch. Schließlich schläft Bloom ein.
Kapitel 14: Die Rinder des Sonnengottes Helios
Szene Krankenhaus Entbindungsstation • Uhrzeit 22 Uhr
Leopold Bloom kommt an der Holles Street 29 vorbei, der Frauenklinik von Dr. Horn, wo seine Bekannte Mrs. Purefoy seit drei Tagen in den Wehen liegt und schließlich unter großen Schmerzen einen Sohn zur Welt bringt. Da es jedoch für einen Besuch zu spät ist, nimmt ihn der Assistenzarzt Dixon mit zu einem Treffen von zechenden Medizinstudenten im Hinterzimmer, die auf Buck Mulligan warten. Bloom trifft hier erstmalig direkt Stephen. Er verfolgt, seines früh verstorbenen Sohnes gedenkend, die lästerlichen und zotigen Gespräche über unfreiwillige Vaterschaft und Empfängnisverhütung, d.h. den Verstoß gegen das göttliche Gesetz, fruchtbar zu sein und sich zu mehren, und die katholische Doktrin, das Wohl des Kindes über das der Mutter zu stellen.
Wie die Gefährten des Odysseus sich an den Rindern des Sonnengottes Helios vergehen und sie schlachten, vergeht sich die Gruppe am Gebot der Fruchtbarkeit. Als ob Stephen seine Hybris bewusst wird und seine Gewissensbisse ertränken möchte, ruft er plötzlich nach einem Gewitterdonner dazu auf, das Gelage bei "Burke" fortzusetzen. Dort fliegt die Gruppe zur Sperrstunde raus und will weiterziehen ins Hurenviertel Dublins. Bloom, in Sorge um Stephens Wohlergehen, folgt ihnen.
Held dieses Kapitels ist die Geschichte der englischen Sprache, vom Altenglischen beginnend und im Slang endend. Sie wird analog gesetzt zur Embryonalentwicklung eines Kindes. Die deutsche Übertragung versucht dies nachzubilden. Die Hörspielfassung kürzt hier bewusst stark. Die Handlungsmotive und Stil-Lagen werden skizziert und verdichtet, sie umkreisen den Kern des Kapitels für eine sinnliche Korrespondenz im Akustischen und Musikalischen.
Kapitel 15: Kirke
Szene Bordell • Uhrzeit Mitternacht
Es ist Mitternacht. Bloom, selbst im Unklaren über das "Warum?", folgt Stephen und Lynch in die Mabbot Street, den Rotlichtdistrikt Dublins. Er verliert ihre Spur und findet Stephen endlich im Bordell von Bella Cohen. Sie vertritt die Zauberin Kirke, mit der Odysseus über ein Jahr das Bett teilt. Der betrunkene Stephen prasst mit seinem wenigen Geld, zerschlägt mit seinem Eschenstock den Kandelaber der Bella Cohen, stürzt nach draußen und provoziert einen Polizisten, der ihn niederschlägt. Bloom kümmert sich um den Bewusstlosen: Der vaterlose Sohn und der sohnlose Vater finden abseits des Trubels zueinander.
Das Kapitel schrieb Joyce wie ein Theaterstück. Es ist ein surreales und schockierendes Traumspiel, in dem nach magischen Gesetzen Bloom und Stephen hineingezogen werden in einen Rausch grotesker und erotischer Halluzinationen: Bloom verliert sich in Bildern sadomasochistischen Praktiken, Stephen wird von Höllenqualen wegen seiner Abkehr vom Katholizismus heimgesucht. Um sie herum findet ein Hexensabbat statt, eine Walpurgisnacht mit sich verwandelnden Personen des zurückliegenden Tages.
Kapitel 16: Eumaios
Szene Kutscherkneipe • Uhrzeit 1 Uhr morgens
Wie Odysseus sich dem Schweinehirten "Eumaios" nur langsam zu erkennen gibt und in dessen Hütte seinen Sohn Telemachos trifft, so finden Stephen und Bloom hier gemächlich, gelegentlich aneinander vorbei redend, zueinander.
Auf ihrem Weg zur Kutscherkneipe "Cabman‘s Shelter" begegnen sie dem arbeitslosen Corley, dem Stephen Geld leiht, und Streit suchenden italienischen Seemännern. Bloom spricht mit Stephen väterlich über die Gefahren des zügellosen Nachtlebens und großzügiger Mildtätigkeit. In der Kneipe stoßen sie auf einen Seemanns-Garn spinnenden Matrosen. Es ist spät und der Weg zum Martello Tower weit. Bloom lädt Stephen zu sich nach Hause ein.
Die letzen drei Kapitel, in Anlehnung an Odysseus‘ Rückkehr nach Ithaka als "Nostos" (Heimkehr) ausgewiesen, bilden den Abschluss des "Ulysses". Die Odyssee ist beendet: Stephen und Bloom geraten erschöpft nach dem Bordellbesuch in ruhigeres Gewässer.
Joyce wechselt vom Drama zu einem langsam und beinahe umständlich dahingleitenden altertümlichen Erzählstil, der das Mittel des inneren Monologs nicht nutzt. Wahrhaftigkeit, Herkunft, Identität sind hier das Thema – aber die langen Satzkonstruktionen sind bewusst von kleinen "Ermüdungsfehlern" in den Beschreibungen und Motiv-Zuordnungen durchzogen.
Kapitel 17: Ithaka
Szene Zuhause, Eccles Street 7 • Uhrzeit 2 Uhr morgens
Um zwei Uhr nachts kommen Bloom und Stephen in der Eccles Street Nr. 7 an. Da Bloom den Schlüssel vergessen hat, muss er durch ein Fenster einsteigen. Bei einer Tasse Kakao unterhalten sich beide. Stephen schlägt die Einladung, dort zu nächtigen, aus und geht seines Weges. Bloom hängt noch seinen Gedanken über den Freier Boylan und den Tagesverlauf nach.
Für dieses Vater-Sohn Kapitel greift Joyce auf die Technik des Katechismus zurück. Im Vergleich zu Kapitel 2 erscheint er hier in Form eines Geschehen objektivierenden Frage- und Antwortgesprächs. Wie von außen beobachtet, werden die Handlungen, Gespräche und Vorlieben von Leopold Bloom und Stephen Dedalus in einem unpersönlichen Ton erzählt. Ihr Denken, Fühlen und Handeln wird bewertet und zugleich ironisiert.
Die Bezüge zur Odyssee sind hier kaum ausgeprägt. Bloom ist kein zurückgekehrter Herrscher und König, der für Ruhe und Ordnung am Hofe sorgt und die unbotmäßigen Freier ermordet, sondern ein besonnener Durchschnittsbürger, der sich dadurch auszeichnet, dass er den Lauf des Schicksals letztendlich akzeptiert. Sein Sohn im Geiste, Stephen, verlässt ihn und zieht in die Welt, um seinen künstlerischen Genius verwirklichen zu können.
Kapitel 18: Penelope
Szene Bett • Uhrzeit …
Odysseus ist zu seiner Frau Penelope heimgekehrt und betritt das eheliche Lager.
Molly ist hier Penelope. Mit Mollys sprunghaftem Bewusstseinsstrom, einem erneuten Perspektiv- und Personenwechsel in der Erzählstruktur des Romans, lässt Joyce den "Ulysses" enden.
Es ist tiefe Nacht in Dublin, Molly wird von Bloom geweckt, der sich ihr zu Füßen schlafen legt und, selbstverständlich unter Auslassungen, von seinen Abenteuern des Tages berichtet. Molly kann nicht weiterschlafen Sie webt einen assoziativen Gedankenfluss und erinnert sich an ihre Kindheit und Jugend in Gibraltar, lässt das Rendezvous mit Boylan und andere erotische Abenteuer Revue passieren, kommentiert ihre heutigen Erlebnisse und gedenkt kurz vor dem Einschlafen der Zeit, als Bloom um sie geworben hat und sie ihn als Ehemann akzeptierte: " … ich habe ja gesagt ja ich will Ja."
Biographien
James Joyce
geboren am 2. Februar 1882 in Dublin, gestorben am 13. Januar 1941 in Zürich. Nach seiner Schulzeit an den jesuitischen Colleges Congowes Wood und Belvedere, Studium der modernen Sprachen, danach erster Parisaufenthalt und Rückkehr nach Dublin 1903; Tod der Mutter. Am 16. Juni 1904 führt Joyce seine spätere Lebensgefährtin Nora Barnacle zum ersten Mal aus (dieses Datum wird als "Bloomsday" im "Ulysses" verewigt); das Paar verlässt Irland und versucht zunächst in Zürich, dann in Pula Fuß zu fassen. In ständiger Geldnot arbeitet er als Englischlehrer in Triest und beendet 1906 seinen Erzählband "Dubliners", der erst 1914 veröffentlicht wird. Beginn seiner Arbeit am "Ulysses". 1916 erscheint "A Portrait of the Artist as a Young Man". Während des Ersten Weltkriegs droht Joyce als britischem Staatsbürger in Österreich-Ungarn die Verhaftung; er geht nach Zürich, wo er über Vermittlung von Ezra Pound die englische Feministin und Verlegerin Harriet Shaw Weaver kennen lernt, die ihn zeitlebens finanziell unterstützt. 1922 beendet Joyce an seinem 40. Geburtstag die Arbeit an "Ulysses", den im gleichen Jahr "Shakespeare & Company" veröffentlicht. 1939 erscheint "Finnegans Wake". 1940 muss Joyce aus Paris vor der Deutschen Wehrmacht fliehen und kehrt nach Zürich zurück, wo er 1941 stirbt.
Klaus Buhlert
geboren 1950 in Oschersleben in Sachsen-Anhalt, flüchtete 1972 in den Westen. Nach einem Studium der Musik, Akustik und Informatik ging er an das Massachusetts Institute of Technology in Cambridge/USA und bekam kurz darauf einen Lehrauftrag der Elektronischen und der Computer-Musik an der Technischen Universität Berlin. 1983 lernte er in London den Regisseur George Tabori kennen und schrieb für ihn bis 1995 zahlreiche Bühnenmusiken. Danach arbeitete er als Komponist für zahlreiche Theaterregisseure wie u.a. Amelie Niermeyer, Filmregisseure wie Pepe Danckwart oder war 1995 mit drei Musiktiteln beim Kinofilm "Natural Born Killers" von Oliver Stone vertreten. Seit 1992 arbeitet Buhlert zumeist in Personalunion als Autor oder Bearbeiter, Komponist und Regisseur für das ARD-Hörspiel. Zahlreiche Auszeichnungen: Deutscher Hörbuchpreis für "Moby Dick" nach Herman Melville und für "Der Mann ohne Eigenschaften" nach Robert Musil; Hörspiel des Jahres für Raoul Schrotts "Hotels" 1995 und für "Mosaik" nach Konrad Bayer 2004; Preis der Akademie der Künste 2001 für "Die Reise" nach Bernward Vesper.
Zuletzt verantwortete Buhlert noch für SWR2 die Hörspielfassung, Musik und Regie von Thomas Pynchons "Die Enden der Parabel / Gravity’s Rainbow", die als "HR2 Hörbuch des Jahres 2020" und "Deutscher Hörbuchpreis 2021 Kategorie: Bestes Hörspiel" ausgezeichnet wurde.
Die Schauspieler*innen und ihre Rollen
Die Schauspieler*innen | und ihre Rollen |
Manfred Zapatka | Erzähler |
Dietmar Bär | Leopold Bloom, Bootsmann |
Jens Harzer | Stephen Dedalus |
Birgit Minichmayr | Marion »Molly« Bloom |
Corinna Harfouch | Erzählerin, Mina Kennedy, Bella/Bello Cohen, Chorus, Jargon der Straße |
Jürgen Holtz | Erzähler, Garret Deasy, Alter Mann, J.J. O’Molloy |
Thomas Thieme | Erzähler, Hundebesitzer, Moses Dlugacz, Viehtreiber, Gast, Erster Wachmann, Gemeiner Compton, Wache, Matrose |
Josef Bierbichler | Joe Hynes |
Werner Wölbern | Buck Mulligan, Erzähler, Elias, Philip Beaufoy, Gesang |
Ernst Stötzner | Simon Dedalus |
Graham Valentine | Erzähler Englisch, Gesang |
Anna Thalbach | Gerty MacDowell |
Wolfram Koch | Blazes Boylan, Tom Kernan, Mr. O’Madden Burke, John Wyse Nolan, Chorus, Jargon der Straße |
Milan Peschel | Larry O’Rourke, Martin Cunningham, Lenehan, Kellner, Chorus, Jargon der Straße, Der Ausrufer, Kriminalrichter, John Corley |
Natali Seelig | Zoe Higgins, Mrs. Talboys |
Jacqueline Macaulay | Miss Lydia Douce, Cissy Caffrey, Stimme |
Felix von Manteuffel | John Henry Menton, Professor MacHugh, John Eglinton, Richie Goulding |
Stefan Wilkening | C. P. M’Coy, Mr. Sweny, Pater John Conmee, Pater, Bote, Monks, Pater Hugh C. Love, Pater Bob Cowley, Jimmy Henry, Blinder, Priester, Paddy Dignam, Alexander J. Dowie, Denis J. Maginni |
Bibiana Beglau | Josie Breen, Miss Dunne |
Eva Gosciejewicz | Kitty Ricketts, Mrs. Bellingham, Chor |
Margit Bendokat | Milchfrau, Eisfrau, Marktfrau, Chorus, Jargon der Straße, Kupplerin, Mutter |
Lars Rudolph | Mr. Hornblower, Red Murray, Mr. Lyster, Diener, Nosey Flynn, Hausknecht |
Hans Werner Meyer | Haines, Bantam Lyons, Mr. Nannetti, George Russell, Vincent Lynch |
Michael Lucke | Schaffner, Myles Crawford, Konstabler, Auktionator, Ben Dollard, Chorus |
Rufus Beck | Erzähler, Junger Mann |
Judith Hofmann | Florry Talbot, Chor, Mrs. Barry |
Peter Kurth | John O’Connell, Davy Byrne, Corny Kelleher, Seemann |
Hendrik Arnst | Jack Power, Tom Rochford |
Maximilian von Pufendorf | Ned Lambert |
Mira Partecke | Boody Dedalus, Mädchen |
Mandy Rudski | Maggy Dedalus, Dilly Dedalus |
Alberto Fortuzzi | Almidano Artifoni, Italienische Seemänner |
Lyonel Hollaender | Cyril Sargent, Fiestrutte, Gesang, Zeitungsjunge |
Anatol Aljinovic | Cochrane |
Leo Burkhardt | Armstrong, Zeitungsjunge, Gesang |
Michel Stieblich | Comyn |
Franz Jährling | Talbot |
Klaus Buhlert | Arbeiter |
Das Gilbert-Schema
Die Hörspielfassung des "Ulysses" übernimmt die Struktur des Romans, der in seinem Aufbau Homers "Odyssee" folgt. Im "Ulysses" schildert James Joyce einen Tag in Dublin in 18 Kapiteln. Jedem Kapitel hat er eine Figur und einen Gesang aus der "Odyssee" zugeordnet sowie eine Uhrzeit, einen Ort in Dublin, eine Kunstrichtung, eine Farbe, ein Symbol und eine Erzähltechnik. Seinem Freund Stuart Gilbert erstellte Joyce 1921 ein Schema, das die in den einzelnen Kapiteln sich spiegelnden Elemente auflistet. Dieses so genannte „Gilbert-Schema“ ist hilfreich, Bezüge herzustellen und sich im Roman grob zu orientieren.
Das Gilbert-Schema zum Hörspiel Ulysses von James Joyce als PDF Datei
Titel | Szene | Std. | Organ | Kunst | Symbol | Technik |
Telemachos | Turm | 8.00 | -- | Theologie | Erbe | Erzählung (jung) |
Nestor | Schule | 10.00 | -- | Geschichte | Pferd | Katechismus (pers.) |
Proteus | Strand | 11.00 | -- | Philologie | Flut | Monolog (männlich) |
Kalypso | Haus | 8.00 | Niere | Ökonomie | Nymphe | Erzählung (erwachsen) |
Lotophagen | Bad | 10.00 | Genitalien | Botanik, Chemie | Eucharistie | Narzissmus |
Hades | Friedhof | 11.00 | Herz | Religion | Totengräber | Inkubismus |
Aiolos | Zeitung | 12.00 | Lunge | Rhetorik | Redakteur | Enthymem |
Laistrygonen | Essen | 13.00 | Speiseröhre | Architektur | Polizisten | Peristaltik |
Skylla und Charybdis | Bibliothek | 14.00 | Gehirn | Literatur | Stratford, London | Dialektik |
Irrfelsen | Straße | 15.00 | Blut | Mechanik | Bürger | Labyrinth |
Sirenen | Konzertsaal | 16.00 | Ohr | Musik | Bardamen | Fuga per canonem |
Der Kyklop | Pub | 17.00 | Muskeln | Politik | Nationalist | Gigantismus |
Nausikaa | Felsen | 20.00 | Auge, Nase | Malerei | Jungfrau | Tumeszenz, Detumeszenz |
Rinder des Helios | Krankenhaus | 22.00 | Gebärmutter | Medizin | Mutter | Entwicklung des Embryos |
Kirke | Bordell | 0.00 | Bewegungsapparat | Magie | Hure | Halluzination |
Eumaios | Kutscher-Kneipe | 1.00 | Nerven | Navigation | Matrose | Erzählung (alt) |
Ithaka | Haus | 2.00 | Skelett | Wissenschaft | Komet | Katechismus |
Penelope | Bett | -- | Fleisch | -- | Erde | Monolog (weiblich) |
Der Weg zum Hörspiel
Der Roman
"Ulysses" von James Joyce ist der Roman der literarischen Moderne par excellence. Joyce schildert hier, aufgefächert in 18 formal unterschiedlich angelegte Kapitel, einen Tag im Leben des Dubliner Annoncenakquisiteurs Leopold Bloom und des jungen Künstlers Stephen Dedalus. Der Roman, der am Donnerstag, den 16. Juni 1904 spielt, ist zugleich ein Roman der ganzen Welt. Er spannt den Bogen von Homers "Odyssee" am Anfang der abendländischen Literatur bis zum Leben der Dubliner Bürger Anfang des 20. Jahrhunderts. Dabei sind im Text – durch Anspielungen, Zitate oder Parodien in den Erzählerparts, Monologen, Dialogen und mehrstimmigen Szenen – Mythologie und Geschichte, Philosophie, Literatur, Musik, Kunst und Wissenschaft seit der Antike enthalten. Sein literaturgeschichtlicher Stellenwert und die ihn überwuchernde Sekundärliteratur verhindern oft eine wirkliche Lektüre. Der "Bloomsday" hingegen, dieser Donnerstag des 16. Juni 1904, ist als Chiffre der Weltliteratur auch in Deutschland vielen Menschen bekannt; schließlich steht der "Ulysses" in zahlreichen Bücherschränken, wenn auch zumeist ungelesen oder nur angelesen. Es wird Zeit, dieses Meisterwerk für den deutschen Sprachraum wieder lebendig werden zu lassen – mit all seinem Humor und Witz, seiner sprachlichen Schönheit und Musikalität, seinen Geschichten und seiner Thematisierung von Sexualität, schlicht: seiner Modernität.
Das englische Original kann nur derjenige erschließen, der des Englischen wirklich mächtig ist. Der "Ulysses" gilt als schwierig – vor allem für den deutschen Sprach- und Rezeptionsraum, trotz der kongenialen Übersetzung von Hans Wollschläger. Und tatsächlich: Seine Bedeutungsebenen, Motiv- und Erzählstrukturen oder ethymologischen Grundierungen zu erschließen und den Joyceschen Stilexperimenten gerecht zu werden, scheint nur etwas für Eingeweihte mit Geduld und entsprechendem Handapparat. Dieses Erscheinungsbild trügt jedoch. Es bietet sich durchaus eine Lesart an, die den "Ulysses" einem größeren Publikum nahe bringt, ohne seinen Gehalt und seine Komplexität zu unterschlagen. Bertolt Brecht weist den Weg auf lakonisch-hintergründige Weise: "Das Buch habe ich von ganz intelligenten Lesern wegen seines Realismus loben hören (…) ich gestehe, dass ich über den ‚Ulysses‘ (trotz seiner zahlreichen Manierismen) beinahe ebenso gelacht habe als über den 'Schweijk', und für gewöhnlich lacht unsereiner nur bei realistischen Satiren." Ob Joyce eine Satire geschrieben hat, sei dahingestellt. Brecht betont den Realismus und den Unterhaltungswert des Romans. Er stellt den "Ulysses" wieder vom Kopf auf die Füße, auf den Boden seines Realismus.
Die Hörspielfassung
Brechts ästhetisches Urteil übernimmt die SWR-Hörspieladaption als Zielvorgabe: Sie will den Roman erfahrbar machen und die Schicht der Bedeutungsschwere abtragen, ohne dass er zu leicht wird, aber auch ohne in weihevollem Purismus zu erstarren. Diese Aufgabe kann, vielleicht besser als eine Lesung des vollständigen Textes, eine Hörspielfassung erfüllen. Ihre Mittel: inszenatorische Verlebendigung und Dechiffrierung, Staffelung des akustischen Raumes zum Verdeutlichen von Erzählhaltungen und -perspektiven, Vernetzung der Motive. Umsetzbar ist dies über eine akustische Bearbeitungsstrategie, Schauspieler in der Rolle und als Erzähler sowie die Inszenierungsmittel von Musik und Geräusch. Es versteht sich von selbst, dass diese Hörspielfassung dabei der Vorgabe folgt: Am Originaltext entlang; kein Wort, das nicht von Joyce in der Übersetzung von Hans Wollschläger ist. Für das Projekt konnte als Bearbeiter und Regisseur Klaus Buhlert gewonnen werden, der für die ARD zahlreiche Hörspiel-Großproduktionen erfolgreich umgesetzt hat, zuletzt 2009 die 20-stündige Fassung von Homers "Ilias" in der Neuübertragung von Raoul Schrott. Buhlert legte den "Ulysses" als Hörspiel auf 18 Teile à 41 bis 110 Minuten an. 18 unterschiedliche Hörspiele sind entstanden. Buhlert folgt damit den 18 Roman-Kapiteln, von denen jedes einen eigenen Stil und eine eigene Sprache aufweist.
Die SWR/DLF-Hörspielfassung hat sich für Kürzungen entschieden. Sie sind auf eine Verdeutlichung nach verständnis- und spannungsdramaturgischen Überlegungen angelegt, die aus dem Text sich entwickeln und die unumkehrbare Linearität wie Eigenständigkeit des Akustischen berücksichtigen. Der Kürzungsfaktor variiert so je nach Kapitel, um die literarische Komplexität in eine akustische Wirklichkeit zu übertragen. Bei zwei Kapiteln – "Skylla und Charybdis" und "Die Rinder des Sonnesgottes" – erschien uns dies nur über ein starke Verdichtung möglich.
Manfred Hess, Chefdramaturg SWR Hörspiel