Holocaust: Wie sich das Gedenken ändert und welche Gefahren dadurch drohen

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Jonathan Hadem
Jonathan Hadem steht im Gang eines SWR-Gebäudes.

Vor 80 Jahren wurden die Menschen befreit, die das Konzentrationslager Auschwitz überlebt hatten. Wie an jedem 27. Januar wird auch in diesem Jahr an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert. Vielen ist das wichtig, aber einige, vor allem aus dem rechten und rechtsextremen Spektrum, sagen, es solle Schluss mit dem Erinnern sein. Andere wissen einfach nichts oder zumindest wenig über die Verfolgung und Ermordung von Millionen Juden und anderer Menschen. Die Erinnerungsarbeit verändert sich ebenso wie das Gedenken. Darüber hat SWR-Aktuell-Moderator Jonathan Hadem mit Heike Radvan vom Institut für Rechtsextremismusforschung an der Uni Tübingen gesprochen.

Wichtig, möglichst konkret an die Menschen, die das betroffen hat, zu erinnern - und gleichzeitig auch zu fragen: Was hat das eigentlich mit heute zu tun?

SWR aktuell: Wie wichtig ist der Holocaust-Gedenktag in der politischen Bildung?

Heike Radvan: Er ist sehr wichtig, so wie Sie es auch gerade in der Anmoderation gesagt haben. Und wir sind ja damit konfrontiert, dass die Methoden in der historisch-politischen Bildung hier auch verändert werden müssen, damit wir möglichst konkrete Auseinandersetzung mit dem ermöglichen können, für junge Menschen: Was hat den Holocaust eigentlich ausgemacht? Wie sah das aus? Auch: Wie hat die Verfolgung begonnen? Insofern ist das sehr wichtig für die Erinnerung, möglichst konkret an die Menschen, die das betroffen hat, zu erinnern und gleichzeitig auch zu fragen: Was hat das eigentlich mit heute zu tun? Was kann man gegebenenfalls auch daraus lernen?

SWR Aktuell: Können Sie uns ein paar Beispiele nennen, wie sich diese Arbeit verändert hat?

Heike Radvan, Professorin für Erziehungswissenschaften, Uni Tübingen
Heike Radvan, Professorin für Erziehungswissenschaften, Uni Tübingen

Radvan: Wir wissen aus der Forschung und aus der Praxis: Was wirklich einen Unterschied macht, sind langfristige pädagogische Projekte, also weniger kurzfristige Interventionen oder kurzfristige Besuche auch zum Beispiel in Gedenkstätten. Was einen Unterschied macht, ist, wenn ich zum Beispiel mit einer Schulklasse - oder auch mit einer Gruppe, wenn ich in der offenen Jugendarbeit tätig bin - fragen kann: Wer war eigentlich an unserer Schule betroffen von dem Holocaust? Und wie sah das für die Person dann ganz konkret aus? Dass ich mir zum Beispiel Briefe angucken kann oder auch fragen kann: Wer hat sich eigentlich damals wie verhalten in der Situation, als die Verfolgung begannen? Wer hat unterstützt, wer hat weggeguckt, wer hat was gemacht? Wer war verantwortlich letztendlich für die Verfolgung? Geschichte ist ja kompliziert, ist komplex. Und sich dem zu nähern, ernöglicht diese langfristige biografische, lokalhistorische Recherche so etwas wie Perspektivwechsel. Die ermöglicht einen möglichst empathischen Zugang, und tatsächlich nachzuvollziehen, wie das konkret für die Betroffenen ausgesehen hat. Wenn ich dann noch die Möglichkeit habe, zum Beispiel Angehörige zu kontaktieren und darüber auch noch einmal Zeitzeugnisse mir anzusehen oder dann vielleicht auch in die Gedenkstätte zu fahren und mich dieser Person weiterzuvermitteln. Ich kann das in die Gegenwart holen: Wie wird eigentlich an unserer Schule erinnert - oder wird in der Straße, in dem Haus, wo ich wohne, irgendwie erinnert an diese Personen? Und wenn ja, wie? Wie ist das möglich? Auch kann ich in der Stadtverordnetenversammlung zum Beispiel mit den Jugendlichen dann auch diese Frage aufwerfen und das dann ganz konkret dort verhandeln - und auch durchkämpfen, dass es einen Erinnerungsort gibt. Das macht einen Unterschied für junge Menschen: darüber zu sprechen, sich damit auseinanderzusetzen.

Die Kinder und die Enkel der Verfolgten sprechen auch, sind bereit, die Erfahrungen ihrer Eltern, ihre Angehörigen sehr konkret zu vermitteln

SWR Aktuell: Der Holocaust-Gedenktag ist in diesem Jahr auch ein besonderer, weil er vermutlich einer der letzten mit lebenden Zeitzeugen sein wird. Wie kann man diese Erfahrung denn ersetzen? Kann man sie überhaupt ersetzen? Was braucht es, wenn solche Zeitzeugen nicht mehr da sind, um zu vermitteln, wohin diese rassistischen Stereotype führen können?

Radvan: Erst mal sind Zeitzeugen noch da, die sprechen auch noch. Und wir haben uns seit vielen Jahren ja genau darauf vorbereitet. Was oft vergessen wird: Die Kinder und die Enkel der Verfolgten sprechen auch, sind bereit, die Erfahrungen ihrer Eltern, ihre Angehörigen sehr konkret zu vermitteln.

SWR Aktuell: Aber das ist natürlich trotzdem etwas anderes, wenn man mit jemandem spricht, der tatsächlich dort war und der das Ganze wirklich selbst erlebt hat. Es ist doch ein anderer Eindruck…

Radvan: Ohne Frage. Wir haben uns seit vielen Jahren darauf vorbereitet. Es gibt Videomaterial beispielsweise. Es gibt viele neue Methoden, wo ich mich über eine biographische Auseinandersetzung dem annähern kann, mich einer Person zuwenden kann, so wie ich das beschrieben habe, aus mehreren Perspektiven: Wie hat das damals konkret ausgesehen? Wie ist da was passiert? Das hilft, einen Perspektivwechsel zu ermöglichen, und das macht einen Unterschied. Dafür gibt es Methoden, zum Beispiel auch für die Migrationsgesellschaft. Wir haben biografische Zeugnisse von Personen, die verschiedenen Betroffenengruppen des Holocaust angehört haben:  Sinti und Roma, auch Menschen mit Migrationsgeschichte, lesbische Frauen, schwule Männer, Menschen, die wegen körperlicher und geistiger Beeinträchtigungen verfolgt wurden. Man hat ganz verschiedene Zugänge, um das nachvollziehbar zu machen, was den Holocaust ausgemacht hat.

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