33 Jahre Einheit: "Wir Medien sollten anders über Ostdeutschland berichten"

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AUTOR/IN
Andreas Böhnisch

Vor 33 Jahren ist die damalige DDR der Bundesrepublik Deutschland beigetreten – der 3. Oktober 1990 war der Moment, der als „Wiedervereinigung“ in die Geschichte eingegangen ist. Und doch reden wir immer noch vom Westen und vom Osten – und meinen nicht nur die geographische Lage der Regionen unseres Landes. Es gibt unzählige Klischees, die Westdeutsche von Ostdeutschen haben- und umgekehrt. Darüber und über die gegenseitigen Vorbehalte sowie über die Rolle der Medien hat SWR-Aktuell-Moderator Andreas Böhnisch mit Marieke Reimann gesprochen. Sie ist Zweite Multimediale Chefredakteurin beim SWR, und sie ist in Rostock geboren und aufgewachsen. Seit Jahren ist das Ost-West-Verhältnis eines ihrer Herzensthemen.

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SWR Aktuell: 30 Jahre deutsche Einheit, und wir reden immer noch vom Westen und vom Osten. Haben Sie ein „Lieblings Klischee“, an dem sie sich gerne abarbeiten?

Marieke Reimann: Ich habe jede Menge Klischees, mit denen ich und alle anderen Ostdeutschen schon seit Jahren und Jahrzehnten konfrontiert werden. Das „Lieblings-Klischee“ ist, dass der Ossi per se zuviel jammert. Ich glaube, das ist etwas, das man im Westen oft nicht nachvollziehen kann - weil einfach der Informationsaustausch zwischen Ost und West noch nicht gut ist. Die einen  verstehen nicht, „warum die jammern die?“ -  und die anderen verstehen nicht, „warum kommt das bei denen nicht an, warum wir jammern?“ Ich glaube, daran müssen wir arbeiten.

SWR Aktuell: Ist das denn wirklich so, dass die Ossis mehr jammern als die im Westen? Ich bin ein typisches Westgewächs, im Westen geboren und habe auch mein ganzes Leben im Westen verbracht….

Reimann: Meine Wahrnehmung ist, dass viele in Deutschland gerade zur jetzigen Zeit tatsächlich einfach was zu bejammern haben. Das ist völlig egal, ob das Ost oder West ist. Aber wenn man sich die strukturellen Ungleichheiten anschaut, dann kann man Ostdeutschen schon zugestehen, dass sie nervös darüber sind, wie ihre wirtschaftliche Lage ist, wie ihre Stellung in der Gesellschaft ist - auch mehr als 33 Jahre nach dem Mauerfall. Da können wir zum Beispiel sehen, dass Ostdeutsche zwar 20 Prozent der deutschen Bevölkerung ausmachen, aber trotzdem kaum in Führungsetagen stattfinden. Rund 1,7 Prozent der Führungsmenschen in Deutschland sind Ostdeutsche. Das ist, glaube ich, nicht das, wo man sein möchte, 33 Jahre nach der Wende. Das zieht sich durch alle Bereiche. Wenn sie sich die deutschen Universitäten etwa angucken: Wir haben an den deutschen Universitäten nur eine ostdeutsche Uni-Direktorin. Wir haben erst seit drei Jahren eine ostdeutsche Bundesverfassungsrichterin. Jetzt gehe ich mal rüber zu den Medien, was ja unser Metier ist: Wir haben in keinem überregionalen Medium egal, ob das jetzt Zeit, Spiegel, Süddeutsche ist, eine ostdeutsche Chefredakteurin, einen ostdeutschen Chefredakteur. Wenn wir uns die Geschäftsleitung des ZDF angucken, gibt es da niemanden, der aus Ostdeutschland kommt. Und genauso sieht es bei den Intendanten und Intendantinnen der ARD aus, wo nur eine von zehn aus dem Osten ist. Und im Osten wird weniger verdient, im Osten gibt es weniger Rente. Es gab auch gerade wieder von der Friedrich-Ebert-Stiftung eine Studie „Ungleiches Deutschland“ - vor zwei Wochen veröffentlicht. Die hat auch gezeigt, wie die Wohlstands- und Vermögensverteilung aussieht. Und da ist ganz klar, dass zum Beispiel, wenn wir auf Bayern und Baden-Württemberg schauen, wir im Durchschnitt ein ererbtes Vermögen zwischen 120.000 und 250.000 Euro haben. Und alle ostdeutschen Bundesländer haben zwischen null und 10.000. Also auch das: Überhaupt in die Gelegenheit zu kommen, Vermögen oder Wohlstand aufzubauen, ist so noch überhaupt nicht gegeben. Und das sind, glaube ich, strukturelle Ansätze, über die wir sprechen müssen und über die wir auch außerhalb von solchen Jubiläen, wie wir sie ja jetzt wieder haben am 03.Oktober, einfach reden müssen, damit klar ist: Es gibt noch große strukturelle Ungleichheiten, die dann eben auch zu einem Ungleichheits-Gefühl führen.

SWR Aktuell: Stichwort Medien. Sie haben mal gesagt, die Berichterstattung über Ostdeutschland sei „pauschalisierend und peinlich“. Woran machen Sie das fest?

Reimann: Auch das betrifft nicht nur Ostdeutsche per se, sondern das nehme ich schon wahr, seit ich Journalistin bin. Das ist jetzt auch schon über 20 Jahre so, dass es einfach oft eine pauschalisierende, stereotypisierte Darstellung von Minoritäten in deutschen Medien gibt. Das betrifft Ostdeutsche genauso wie Muslime zum Beispiel. Jetzt komme ich mal zurück zu Ostdeutschen, die eben oft mit Plattenbauten bebildert werden oder mit Trabis, wo es eben schnell darum geht, ein Bild aufzumachen, was dem gängigen Westdeutschen sozusagen bekannt ist, weil er schon damit stets konfrontiert wurde, wie es denn hier so aussehen könnte. Es ist es eben oft eine Perspektive beim Sprechen über Ossis aus dem Westen. Wir haben eine westzentrierte Medienberichterstattung, die auf den Osten guckt und nicht mit dem Westen spricht. Ein Paradebeispiel: Ich erinnere mich, kurz nach der Wende gab es einen Spiegel-Cover, da stand drauf „Gefahr für den Wohlstand“, und man hat eine geteilte Deutschland Karte gesehen. Das macht ja schon deutlich: Da geht es darum, was kommt da für eine Gefahr auf uns zu, die unserem Wohlstand gefährdet? Ähnliche Cover und Zitate kennen wir ja auch bei der Berichterstattung über Geflüchtete in den letzten Jahren. Es gab auch einen anderes Paradebeispiel. Vor vier Jahren hat der Spiegel zum 30-jährigen Mauerfall-Jubiläum auf sein Cover geschrieben, „So ist er, der Ossi - Klischee und Wirklichkeit“ – und auch „Wie der Osten tickt“. Und gesehen hat man da einen Schlapphut in Deutschlandfarben, der offensichtlich so eine Anspielung war auf den 2019 relativ bekannten Pegida-Anhänger, der in viral gegangenen Videos in sächsischem Dialekt Journalist*innen bedroht hat. Und die Botschaft des Spiegels zu 30 Jahre Wende war da eindeutig. Die Ossis sind irgendwie national eingestellt und zeigen stolz die Deutschlandfahne, wählen vermutlich irgendwie rechtsextrem und sprechen sächsisch. Das Cover steht für mich exemplarisch für eine Kommunikations-Asymmetrie zwischen West und Ost. Die Diskurshoheit und die Bestimmung darüber, was sozusagen legitim und was den Normalitätszustand darstellt, ist immer aus der Westperspektive gesprochen

SWR Aktuell: 33 Jahre nach der Wiedervereinigung müssen wir über die politische Situation im Land reden. Und Fakt ist, dass die AfD im Osten besonders stark ist. Bis auf Sachsen-Anhalt würden die Rechtspopulisten in allen ostdeutschen Bundesländern stärkste Kraft mit über 30 Prozent werden, wenn jetzt demnächst Landtagswahlen wären. Tragen die Medien da eine Mitverantwortung, ja vielleicht eine Mitschuld am Aufstieg der AfD gerade im Osten?

Reimann: Ja, auf alle Fälle. Da kann man sich jedes Medium anschauen, egal, ob öffentlich-rechtlich oder privatwirtschaftliches Medium. Alle überregionalen Medien in diesem Land haben es verpasst, eine Ostdeutschlandberichterstattung herzustellen, die nicht durchweg pauschalisierend oder stereotypisierend ist. Es gibt natürlich ein Nachdenken seit einigen Jahren, und es gibt ein Bemühen, sich mehr damit auseinanderzusetzen, das nehme ich schon wahr – weil es seit 2015, seit der ersten Geflüchtetenkrise, wenn man so mag, es auch eine deutlichere Auseinandersetzung mit der ostdeutschen Identität durch die Ostdeutschen selbst gibt. Es gibt mehr ostdeutsche Stimmen im öffentlichen Diskurs, die sagen „Hey, Moment mal, wir sind hier nicht die, die alle „Ostdeutsch“  - in Anführungszeichen - sprechen. Das ist übrigens auch ein gängiges Vorurteil, mit dem ich ständig konfrontiert werde. Obwohl ich aus Mecklenburg-Vorpommern bin, fragen mich oft Leute in Baden-Württemberg und in Rheinland-Pfalz, warum ich kein Ostdeutsch spreche. Ich sage dann, naja, es gibt ja auch im Osten unterschiedliche Mundarten. Da kann man zwischen mecklenburgisch, sächsisch und thüringisch schon einen Unterschied machen. Aber zurück zu Ihrer Frage: Es gibt einfach kein überregionales Medium, in denen Ostdeutsche in der Führungsverantwortung sind. Und genauso, wenn man in Ostdeutschland Verlage sind: Da sind westdeutsche Hierarchen und Hierarchinnen in der Führungsverantwortung. Es gibt wenig „Ost-Blicke“, die in den Redaktionen stattfinden und vielleicht ein anderes Bild in die Berichterstattung mit reinbringen würden. Es hat sich so ein bisschen geändert. Es gibt Untersuchungen dazu von Hoferichter und Jacobs, eine Studie zusammen mit dem MDR, dass die Zuschreibungen für Ostdeutsche in der Berichterstattung sich geändert haben. Also wenn man so am Anfang der Neunziger geguckt hat, gab es noch so Wörter wie „Aufschwung“ und „Modernisierung“ und „Wachstum“. Also man hat mit dem Ende der DDR schon etwas Positives konnotiert. Dann hat sich das aber ganz schnell Mitte der Neunziger verändert, von den mutigen Bürgern und den aufbrechenden Bürgern hin zu den - ich sage mal – Abgehängten, denjenigen, die sich nicht mehr anschließen können, den Unbeweglichen und Unsicheren den Ärmeren. Und dabei ist man geblieben. Auffällig ist auch, dass wir hauptsächlich dann über Ostdeutsche berichten, wenn Jubiläen anstehen, wenn eine Krise ist oder wenn eben eine Wahl ansteht. Dann fahren Leute mal „rüber“ - in Anführungsstrichen- , um mal zu gucken, was da so los ist oder wer da so wie wählt. Es muss einfach mehr in die gängige Berichterstattung rein, das Ostdeutsche normal mit stattfinden.

SWR Aktuell: Man hört, dass Sie wirklich für dieses Ost-West-Thema brennen - und das, obwohl sie im September 1987 geboren sind. Das heißt, sie waren bei der Wiedervereinigung drei Jahre alt, haben die DDR nie bewusst erlebt. Warum ist Ihnen das Verhältnis zwischen dem Osten und dem Westen so wichtig?

Reimann: Ich definiere mich quasi als gesamtdeutsche Bürgerin, bin ja aber ost-sozialisiert. Meine Eltern sind beide in der DDR geboren, beide dort aufgewachsen und haben beide starke Wende-Brüche hinnehmen müssen. Die haben beide ihre Jobs verloren, um das Jahr 1990 herum, und mussten sich dann noch mal neu aufstellen. Und alle Eltern aller meiner Freunde auch. Es gibt einfach klare Brüche in Biografien, die so noch gar nicht erzählt sind, und die, glaube ich, vor allen Dingen im Westen vielen nicht klar sind. Ich bin mit 18 aus Rostock weg, habe dann erst in Ilmenau studiert, habe in Köln, in München, in Leipzig, in Hamburg, jetzt in Stuttgart und Mainz gewohnt. Und das ist etwas, wo ich einfach immer wieder Unterschiede darüber wahrnehme, wie die Leute über die Zustände informiert sind. Das hängt immer damit zusammen, wie man wohl mal jemanden kennengelernt hat. Wie ist man mit dem Thema vielleicht doch auf einer emotionalen Ebene in Berührung gekommen und hat dann noch einmal gemerkt, „Ach Mist, das ist ja wirklich doof gelaufen.“ Meine Eltern waren Ende 20 und mussten sich noch mal ganz neu umorientieren und gucken wie komme ich da irgendwie wieder in Lohn und Brot, und einige haben es eben auch nicht geschafft. Dazu kommt, dass man, glaube ich, auch verkennt, dass auch die Ostkultur ein Stück weit negiert wird in bundesdeutschen Medien. Ich erinnere mich an ein Medium, da ist Vaclav Havel gestorben, Menschenrechtler und vormaliger tschechischer Präsident. Und niemand in der Redaktion wusste, wer das ist. Oder es ist Reinhard Lakomy gestorben. Zuhörerinnen und Zuhörer von uns wird der Name jetzt vielleicht auch nichts sagen. Aber das ist der Liedermacher mit „Traumzauberbaum“, einer Kinderplatte, die man hört und kennt, wenn man im Osten groß geworden ist. Ich erinnere mich an eine junge Diskussion, da war ich schon beim SWR und in der ARD, wo es darum ging, macht man irgendetwas zu Joachim Streich? Joachim Streich ist quasi der „Ost- Bomber“, also der „Gerd Müller des Ostens“, gewesen. Aus einer ostdeutschen Perspektive stellt sich die Frage gar nicht, ob man da jetzt darüber berichtet, dass der gestorben ist - aber aus einer westdeutschen eben schon, weil man ihn nicht kennt. Und ich finde, wenn wir in den nächsten Jahren dahin kommen, uns gemeinsam eine bessere Erinnerungskultur zu erarbeiten und uns darüber dann die Hand zu reichen, dann gelingt es uns bestimmt auch, ein besseres Verständnis füreinander zu entwickeln.

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Andreas Böhnisch