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Cancel Culture an US-Unis – Bedrohen Aktivisten die Wissenschaftsfreiheit?

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Christoph Drösser
Christoph Drösser | Fotografin: Liesa Johannssen  (Foto: Fotografin: Liesa Johannssen )
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Ulrike Barwanietz

“Cancel Culture” hat in wenigen Jahren eine steile Karriere erlebt und ist auch nach Deutschland übergeschwappt. Doch ist die Freiheit der Rede und der Wissenschaft wirklich in Gefahr?

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Was bedeutet der Begriff „Cancel Culture“?

„Cancel Culture“ stammt als Begriff aus Internetforen und sollte ursprünglich die Beteiligten an heißen Online-Diskussionen dazu bringen, die Temperatur etwas herunterzudrehen und Minderheitenmeinungen gelten zu lassen. “To cancel” heißt ja eigentlich so viel wie “absagen”, etwa von Veranstaltungen, gegen die sich großer Protest organisiert.

Kanye West sieht sich als erstes Opfer von Cancel Culture in den USA

Als der Rapper Kanye West sich 2018 als Fan von Donald Trump zu erkennen gab und dann auch noch sagte, die amerikanischen Sklaven seien doch eigentlich selber verantwortlich gewesen für ihr Schicksal, bekam er Gegenwind in den sozialen Netzen. Viele wollten seine Musik nicht mehr hören. Er sieht sich heute als eines der ersten Cancel-Opfer.

Insbesondere Universitäten sollen angeblich Hort einer neuen Intoleranz sein. Dulden linke Lehrende und Studierende keine von ihrer Political Correctness abweichenden Meinungen mehr? Kann schon ein falsches Wort in einer Vorlesung dazu führen, dass Professorinnen und Professoren vor ein Gesinnungsgericht gestellt werden?

Zwei Schilder zeigen in entgegengesetzte Richtungen mit der Aufschrift "Debattenraum" und "Cancel Culture" (Foto: IMAGO, IMAGO / U. J. Alexander)
Expertinnen beobachten, dass man heute bestimmte Themen weniger als Interessenkonflikte diskutiert, sondern eher als Fragen, in denen es als Antwort nur Schwarz oder Weiß gibt

Protest gegen rechten Vortragenden an linker Universität

Als ein Beispiel für Cancel Culture wird der Protest gegen eine Veranstaltung mit Milos Yiannaopoulos genannt, einem provokanten Redakteur der rechten Website Breitbart, vergleichbar mit einem Auftritt des AfD-Politikers Björn Höcke an einer deutschen Uni. Doch müsste man sich nicht mehr Sorgen machen, wenn es dagegen keine Proteste gäbe?

Vor allem da dies der einzige Fall zwischen 2000 und 2017 ist, an dem an der University of California in Berkeley – die wahrscheinlich linkeste und am meisten woke Universität der USA, genau hier sollte Yiannaopoulos sprechen – tatsächlich ein Vortrag aufgrund von Protesten abgesagt wurde.

Rechte Gelder zur Förderung von Cancel Culture

Adrian Daub ist Literaturwissenschaftler an der Universität Stanford in der Nähe von San Francisco, im November erscheint in Deutschland sein Buch Cancel Culture Transfer. Daub beschreibt darin, dass es seit den 1970er-Jahren Bemühungen gibt, den Campus als Hort linker und antiamerikanischer Ideen zu diskreditieren.

Hierfür würden laut Daub einflussreiche rechte Stiftungen viel Geld zur Verfügung stellen. Diese Stiftungen würden problematische Vortragende überhaupt erst einladen und dann die Presse darüber informieren, so Adrian Daub.

Unbekannte stehlen seit 2021 bei der Mohrenapotheke in der Innenstadt von Konstanz nachts immer mehr Buchstaben - die Betreiberin hat die Buchstaben bisher nicht ersetzt (Foto: IMAGO, IMAGO / Eckhard Stengel)
Unbekannte stehlen seit 2021 bei der Mohrenapotheke in der Innenstadt von Konstanz nachts immer mehr Buchstaben - die Betreiberin hat die Buchstaben bisher nicht ersetzt

Cancel Culture in Deutschland

Obwohl der Begriff in den USA erst seit etwa vier Jahren benutzt wird, schaffte die Cancel Culture schnell den Sprung über den Atlantik. Dabei ging es in Deutschland zunächst oft um die Frage, welche Grenzen Comedians überschreiten dürfen, bald aber auch um die freie Meinungsäußerung in den Wissenschaften.

2021 schlossen sich 70 Professorinnen und Professoren zum “Netzwerk Wissenschaftsfreiheit” zusammen. Die Bochumer Philosophin Maria-Sibylla Lotter gehörte zum ersten Leitungsteam. Lotter beobachtet, dass man heute bestimmte Themen weniger als Interessenkonflikte diskutiert, sondern eher als Fragen, in denen es als Antwort nur Schwarz oder Weiß gibt.

Neu hinzugekommen sei laut Lotter die aus den USA und Großbritannien übergeschwappte Identitätspolitik. Damit sei ein gewisser moralischer Druck und Furor verbunden, der eine Diskussion fast unmöglich mache, so Lotter.

Gab es jemals eine gute alte Zeit der Streitkultur?

Dazu ein kurzer Zwischenruf aus den USA: Die Rede von der guten alten Zeit, in der Meinungsverschiedenheiten eher sportlich ausgetragen worden seien, sei fragwürdig und ahistorisch, meint Elizabeth Niehaus, Professorin für Erziehungswissenschaften an der University of Nebraska.

Denn erst in jüngerer Zeit werden in den Vereinigten Staaten Menschen mit ganz unterschiedlichen Perspektiven und Lebenserfahrungen in die Hochschulen aufgenommen. Als im Seminarraum noch ausschließlich weiße protestantische Männer saßen, die zumindest alle so taten, als wären sie heterosexuell, konnte man alle möglichen Gespräche führen, die vielleicht Leute außerhalb des Seminarraums unglaublich vor den Kopf gestoßen hätten, so Niehaus.

Eine Analyse, die man auch auf Deutschland übertragen kann. Denn auch bei uns sind Minderheiten heute sichtbarer als früher, und sie sprechen mit lauterer Stimme.

Akademische Redefreiheit in Deutschland und den USA im Vergleich

Forschende aus Nürnberg und Göteborg haben den Academic Freedom Index erstellt, eine weltweite Rangliste der Forschungsfreiheit. In den aktuellen Charts steht Deutschland ganz vorne auf Platz 1. Die Wissenschaftsnation USA dagegen findet man abgeschlagen auf Platz 72.

Dieser Index blickt weniger auf kulturelle Stimmungen als auf staatliche Eingriffe in die Forschungsfreiheit. Und die nehmen in den USA zu. Immer häufiger werden dort nicht nur in Schulen, sondern auch an Universitäten Bücher aus den Bibliotheken verbannt, wird die Behandlung ganzer Inhalte wie Gender-Identität oder Rassenfragen verboten.

Das Etikett “Cancel Culture” ist in diesem Zusammenhang eine grobe Vereinfachung und wirft Shitstorms auf Twitter in einen Topf mit wirklich Besorgnis erregenden staatlichen Einschränkungen der Meinungs- und Redefreiheit.

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ARD-Korrespondentin Katrin Brand berichtet aus Washington über aktuelle Entwicklungen des „bookbanning“.

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