Lucia Ronchetti (Foto: Stefano Corso)

Jens Schubbe

Der Doppelgänger | Wenn der Mensch sich selbst gegenübersteht

Stand

Die Schwetzinger SWR Festspiele eröffnen die Spielzeit 2024 mit der Uraufführung einer zeitgenössischen Oper, diesmal in Koproduktion mit dem Luzerner Theater. Die Komponistin Lucia Ronchetti entschied sich für einen Stoff aus der Weltliteratur: Dostojewskis Erzählung »Der Doppelgänger«, von der ukrainischen Autorin Katja Petrowskaja zum Libretto geformt.

1844 schrieb Karl Marx an seinen Ökonomisch-philosophischen Manuskripten. Ein zentraler Begriff, der von Marx in dieser Schrift behandelt wurde, ist jener der Entfremdung als ein Phänomen, das mit den kapitalistischen Produktionsverhältnissen verbunden ist. Marx beschreibt, was dem Menschen im Zuge der Selbstentäußerung in fremdbestimmter Arbeit widerfährt und wie die Welt – die menschliche wie die natürliche – dem Einzelnen feindlich und fremd gegenübertritt. Eine unmittelbare Konsequenz davon, daß der Mensch dem Produkt seiner Arbeit, seiner Lebenstätigkeit, seinem Gattungswesen entfremdet ist, ist die Entfremdung des Menschen von dem Menschen. Wenn der Mensch sich selbst gegenübersteht, so steht ihm der andre Mensch gegenüber.«

Ungefähr zur gleichen Zeit, als Marx seine Ökonomisch-philosophischen Manuskripte verfasste, arbeitete in Russland Fjodor Dostojewski an seiner Erzählung Der Doppelgänger, die 1846 als zweites größeres Werk des damals gerade 25-jährigen Schriftstellers erschien. Was darin verhandelt wird, wirkt wie eine in die Sphäre der Kunst transferierte und ins Absurde und Surreale überhöhte Version der Marx’schen Beobachtungen und Erkenntnisse.

Eine Geschichte vom »armen Beamten«

Erzählt wird die Geschichte des Petersburger Beamten Jakow Petrowitsch Goljadkin.Wie die Helden in Kafkas Romanen und Erzählungen versucht Goljadkin nicht den Ausbruch aus den ihn umklammernden Verhältnissen, sondern sein Bestreben geht dahin, möglichst reibungslos funktionierender Teil des Apparates zu sein und seine Position in der gesellschaftlichen Hierarchie zu behaupten und wenn möglich zu verbessern. Mit einem solchen Versuch hebt die Erzählung an: Goljadkin putzt sich heraus, um einer (vermeintlichen) Einladung zum Geburtstagsfest der von ihm verehrten Klara Olsufjewna, Tochter eines Staatsrates, zu folgen, wird aber schon an der Tür von der Dienerschaft abgewiesen. Als er sich ein zweites Mal Zutritt zum mittlerweile rauschenden Fest verschaffen will – diesmal über die Hintertreppe –, schafft er es zwar, Klara mit linkischen Worten zu gratulieren, wird dann aber aus dem Haus geworfen. Im nächtlichen Schneetreiben begegnet ihm auf dem Heimweg mehrfach eine Menschengestalt, die ihm zu gleichen scheint, schließlich denselben Weg nimmt wie er und gar in seine Wohnstatt schlüpft: »Der Unbekannte saß vor ihm, auch er im Mantel und mit Hut, auf seinem Bett, lächelte obenhin und nickte ihm mit leicht zusammengekniffenen Augen freundschaftlich zu. Herr Goljadkin wollte aufschreien, protestieren, vermochte es aber nicht. Die Haare standen ihm zu Berge, er sank, bewusstlos vor Schrecken, auf einen Stuhl. Und es gab auch gute Gründe dafür. Herr Goljadkin hatte den nächtlichen Gefährten endgültig erkannt. Sein nächtlicher Gefährte war niemand anderes als er selbst, als Herr Goljadkin in eigener Person, ein zweiter Herr Goljadkin, haargenau wie er selbst, mit einem Wort – in jeder Hinsicht sein Doppelgänger, wie man das nennt.«

Als Goljadkin anderntags an seinem Schreibtisch in einer Behörde ankommt, hat dieser Doppelgänger einen Arbeitsplatz ihm gegenüber eingenommen. Auf dem Heimweg wird Goljadkin von ihm angesprochen und beide schließen in Goljadkins Wohnung zunächst Freundschaft. Beide begegnen sich erneut im Büro, wo der Doppelgänger Goljadkin die gerade fertig bearbeiteten Akten entreißt, die geleistete Arbeit als seine eigene ausgibt und jene Anerkennung bei den Vorgesetzten einheimst, die eigentlich Goljadkin zugestanden hätte: wenn man so will, ein in ein drastisches Bild übersetzter Vorgang des Entfremdens von Arbeit und der Entfremdung des Menschen von sich selbst. Damit beginnt ein Prozess, in dem der Doppelgänger Goljadkin aus seinen Positionen zu verdrängen beginnt, beziehungsweise all das mühelos erreicht, was Goljadkin verwehrt bleibt, der schließlich in den Zusammenbruch getrieben wird und im Irrenhaus endet.

Schreibtisch von Fjodor Dostojewski (Foto: SWR)

Von der Erzählung zum Libretto

Katja Petrowskaja ist es in bewundernswerter Weise gelungen, aus Dostojewskis rund 200 Seiten umfassender Erzählung ein Libretto zu formen. Das ist um so bemerkenswerter, als im Original die Geschichte von einem anonymen auktorialen Erzähler vermittelt wird, der eine allwissende Position einnehmend das Geschehen kommentiert und dessen Position in ein Musiktheater kaum zu übertragen ist. Eine zweite Schwierigkeit dürfte die manchmal labyrinthisch anmutende Erzählstruktur geboten haben, in die häufig ausgedehnte innere Monologe des Helden eingeflochten sind, die ein zielloses Kreisen der Gedanken vermitteln, ein Changieren zwischen Realität und wahnhafter Einbildung, das nachvollziehen lässt, wie die Persönlichkeit Goljadkins zersetzt wird. Trotz der unumgänglichen Straffung des Geschehens blieb die Struktur der Erzählung weitestgehend gewahrt, ebenso wie der charakteristische Tonfall von Dostojewskis Sprache.

Verfremdung als Chiffre der Entfremdung

Für Lucia Ronchettis kompositorisches Schaffen ist das Theatrale essenziell. Der Doppelgänger ist ihr mittlerweile neunzehntes Musiktheaterwerk im engeren Sinne. Ihr musikalischer Zugriff auf den Stoff entspricht einer wesentlichen Eigenart der Erzählung: In psychologischer Feinzeichnung erscheint nur Goljadkin. Alle anderen Figuren sind extrem typisiert, wobei ein Zug zur grotesken Überzeichnung fast durchgängig erkennbar bleibt. Jene Typisierung wird von Ronchetti insofern auf die Spitze getrieben, als einige Figuren nicht von jeweils einem Sänger dargestellt werden, sondern von einem Vokalquartett aus Männerstimmen, dem auch eine Funktion als Chor zuwächst. Nur die wichtigsten Charaktere werden zu wirklichen Bühnenfiguren: Neben Goljadkin sind das der Doppelgänger, der Arzt Dr. Rutenspitz, Goljadkins Diener Petruschka und Klara Olsufjewna. Musikalisches Äquivalent der Entfremdung, von der die Erzählung kündet, ist die permanente Verfremdung des Erklingenden: Zumal die Partie des Goljadkin kennt alle nur denkbaren Formen verfremdeter vokaler Äußerungen – »normal« gesungen oder gesprochen aber wird nur an wenigen Stellen. Zu den Eigenarten von Lucia Ronchettis musikalischer Sprache gehört der Einbezug fremder Musik, die auch in Der Doppelgänger eine wichtige Rolle spielt. Hier gibt es immer wieder Zitate russischer oder auch ukrainischer Folklore, wobei diese Zitate mikrotonal deformiert und somit ebenfalls verfremdet erscheinen.

Im Orchesterpart begegnen häufig Texturen, in denen repetierte Figuren zu flächigen, statischen Klängen überlagert werden. Das erinnert an die Sprache Goljadkins, seine inneren Monologe mit ihren obsessiven Wiederholungen, die gleichwohl ins Leere laufen. Die szenische Umsetzung durch David Herrmann wird das Zeitlose der Erzählung betonen. Bettina Meyer hat einen kubistisch abstrakten Bühnenraum erfunden, der das Werk seiner ursprünglichen zeitlichen und örtlichen Verankerung – vier Tage im November in St. Petersburg Mitte des 19. Jahrhunderts – enthebt, ohne den Stoff einer anderen konkreten Wirklichkeit zuzuweisen.

(gekürzte Fassung eines Essays aus der Saisonbroschüre der Schwetzinger Festspiele)

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SWR