Musikstück der Woche

Theatre of Voices singen Hildegard von Bingens „Columba aspexit“

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AUTOR/IN
Jörg Lengersdorf
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Dominic Konrad

Am 1. November 1112 drehte sich geräuschvoll der große Schlüssel im Schloss, dann wurde es still. Das Inklusorium, in das die 14-jährige Hildegard, ihre 8 Jahre ältere Vertraute Jutta und eine weitere junge Frau eingeschlossen wurden, hatte nur ein Fenster zur Außenwelt.

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Als menschgewordene Steuer ins Kloster gegeben

In einer sogenannten Klause wurde Hildegard auf ein klösterliches Leben vorbereitet. Als zehntes Kind einer adeligen Familie war sie von Geburt an Gott versprochen, die „Zehnte“ wurde nach Art einer menschgewordenen Kirchensteuer an den Klerus entrichtet.

„[…] und meine Eltern weihten mich Gott unter Seufzern, und in meinem dritten Lebensjahr sah ich ein so großes Licht, dass meine Seele erzitterte […]“

Das schrieb die Volksheilige Hildegard später selber in ihren Lebensbericht und machte so plausibel, dass sie schon als Kind von Visionen heimgesucht wurde. Als Heimsuchung muss sie die göttlichen Gesichter, denn so deutete sie ihre Erscheinungen, tatsächlich zunächst empfunden haben, mehr als Belastung, denn als Gewinn.

Abbildung der Hildegard von Bingen in der Abtei St. Hildegard (Foto: IMAGO, imagebroker)
Hildegard von Bingen war nach heutigen Standards eine Universalgelehrte: Äbtissin, Naturmedizinerin, Autorin und nicht zuletzt Komponistin

Hildegards Weg zur Prophetin wird unter Druck beschritten

Hildegard nannte den Schmerz, der mit ihren Visionen verbunden war, „pressura“ (lateinisch: Druck): ein Begriff, der sowohl ihr körperliches Unbehagen als auch den Zwang beschrieb, schließlich Zeugnis abzulegen.

„Ich aber, obgleich ich diese Dinge hörte, weigerte mich lange Zeit, sie niederzuschreiben – aus Zweifel und Missglauben und wegen der Vielfalt menschlicher Worte, nicht aus Eigensinn, sondern weil ich der Demut folgte und das so lange, bis die Geißel Gottes mich fällte und ich ins Krankenbett fiel; dann, endlich bewegt durch vielerlei Krankheit […], gab ich meine Hand dem Schreiben anheim.“

Von nun an verstand sich Hildegard als Prophetin. Ihre Stimme bezeichnet sie als „Trompete, die durch den Atem Gottes erklang“.

Ruine der Abtei Disibodenberg bei Bad Kreuznach (Foto: IMAGO, imagebroker)
Bedeutende Wirkstätte Hildegards zwischen 1112 und 1147: das Kloster auf Disibodenberg bei Bad Kreuznach.

Die freie Taube blickt ins vergitterte Zimmer

Als Musikerin hat Hildegard viele ihrer gedichteten Texte selbst vertont. Die Sequenz „Columba aspexit“ richtet sich an den heiligen Maximin, der mit poetischen Bildern porträtiert wird, und greift noch einmal die Perspektive des Fensterblicks auf, den Hildegard aus ihrer Jugend in der Klause so gut gekannt haben muss:

„Die Taube blickte durch des Fensters Gitter, als Balsamduft vor ihrem Antlitz aufstieg, von Maximin, dem Leuchtenden“.

Herausragendes Vokalensemble: Theatre of Voices

Theatre of Voices wurde 1990 von Paul Hiller gegründet und hat sich als eines der herausragenden Vokalensembles etabliert. Sein Repertoire reicht von Perotin und Hildegard von Bingen bis zu einem großen Spektrum zeitgenössischer Musik.

Theatre of Voices spielte zahlreiche Alben mit vielfältigstem Repertoire ein, gewann 2009 einen Grammy und ist regelmäßig bei großen internationalen Musikfestivals zu Gast, so auch 2014 in der Abtei Maria Laach im Rahmen des SWR2 Festivals RheinVokal.

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