Musikstück der Woche

Gustav Mahler: Um Mitternacht - mit dem SWR Vokalensemble

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AUTOR/IN
Katharina Höhne

Wenn Gustav Mahler ein Lied komponierte, schrieb er gern selbst den Text dazu. Für das Lied "Um Mitternacht" ließ er sich von Friedrich Rückert inspirieren, dem für ihn größten deutschen Dichter des 19. Jahrhunderts. 2012 hat das SWR Vokalensemble unter der künstlerischen Leitung von Marcus Creed unser Musikstück der Woche in einer Version für neunstimmigen Chor von Clytus Gottwald eingesungen und damit einen Exkurs durch die dunkelsten Ecken der menschlichen Seele gewagt.

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Lyrik aus erster Hand

Es gibt kaum einen Komponisten über den so viel Uneinheit herrscht, wie über Gustav Mahler. Selbst seine spätere Frau Alma sagte einmal, dass sie seinen Charakter nie richtig zu fassen bekam. Denn der gebürtige Böhme war der Inbegriff von Verschiedenheit. In seinem Wesen konnte er sowohl herrisch als auch sanftmütig sein, mitfühlend und gleichzeitig eiskalt. Auch seine Musik lebt von Gegensätzen, vor allem aber von großen Emotionen. Egal ob Lied oder Sinfonie – für das was ihn innerlich umtrieb, war sie Auffangbecken und Therapie zugleich.

Während Mahler heute vor allem als Komponist bekannt ist, assoziierten ihn die Menschen früher mit seiner zweiten Leidenschaft: dem Dirigieren. Als künstlerischer Leiter verschiedener Orchester war er in ganz Europa bekannt und kam deshalb fast ausschließlich in der Spielzeitpause zum Komponieren. Auch "Um Mitternacht" entstand in den Sommerferien, 1901, in seinem Haus am Wörthersee. Mit dem Alpenpanorama im Rücken und Blick aufs Wasser fand er Ruhe zum Arbeiten. 

Seit Mahler die Lyrik von Friedrich Rückert kennengelernt hatte, gab es für ihn keine anderen Texte mehr, die er neben seinen eigenen vertonen wollte. Denn das sei, wie er sagte: "Lyrik aus erster Hand, alles andere ist Lyrik aus zweiter Hand." In Rückerts Texten fand Mahler das, was er dachte und fühlte, sodass er zuweilen glaubte, selbst der Autor zu sein. Doch so begeistert Mahler auch war, so kritisch ging die literarische Welt mit dem künstlerischen Schaffen von Rückert um. Sie empfand seine Arbeit als mittelmäßig und überholt, ohne jegliches Gefühl für romantische Poesie. Dass es Rückert weniger Poesie sondern vielmehr um Struktur in seinen Gedichten ging, erkannte sie nicht. Als Genius für Sprachen – Rückert beherrschte mehr als 40 Sprachen – liebte er es, sich in seinen Gedichten formal auszudrücken. Mit dem Ziel, Deutsch als universelle Sprache zu etablieren, übertrug er Gestaltungsformen fremder Sprachen auf die Architektur seiner Verse. Er spielte mit Wiederholungen und klanglichen Variationen, die Mahler übrigens besonders reizten. 

Musik aus dem Innersten

Das Gedicht "Um Mitternacht" umschließt eine sprachliche Klammer: Die Worte "Um Mitternacht/ Hab‘ ich gewacht" geben seinen Versen einen Rahmen und spiegeln gleichzeitig seinen Inhalt wider: Denn auch die Nacht umrahmt das Leben und lässt Gefühle wie Trostlosigkeit, Einsamkeit sowie die Angst vor dem Tod immer wiederkehren. 

Mahler adaptierte Rückerts Wiederholungs- und Variationsprinzip und holt uns durch immer wiederkehrende Phrasen tiefer in die Nacht hinein. Was anfangs nach einer stillen Idylle klingt, entwickelt sich durch aufwärtstreibende Tonleitern zu etwas unbestimmt Bedrohlichem: ausgeliefert und einsam, ängstlich – mit einem Stoßgebet zu Gott – vom Tod übermannt zu werden, hören wir uns durch das Lied.  

Mahler war der Realist unter den Komponisten. Anders als seine romantischen Kollegen holte er auch Unschönes, Hässliches und Grausames auf die akustische Bühne. Er wollte Echtheit, Natürlichkeit – so wie er das Leben sah und fühlte.  

Marcus Creed (Dirigent)

Seit 2003 ist Marcus Creed künstlerischer Leiter des SWR Vokalensembles. Geboren und aufgewachsen an der Südküste Englands, studierte er am King's College in Cambridge, der Christ Church in Oxford und der Guildhall School in London. 1977 kam er nach Berlin, wo er u. a. an der Deutschen Oper Berlin als Repetitor und später Chordirektor arbeitete und die Gruppe Neue Musik und das Scharoun Ensemble als Pianist und Dirigent verstärkt hat. 1987 wurde er zum künstlerischen Leiter des RIAS-Kammerchores ernannte, der unter seiner Leitung zahlreiche internationale Auszeichnungen wie den Edison Award erhielt.  

Die Zusammenarbeit mit der Akademie für Alte Musik Berlin, dem Freiburger Barockorchester und Concerto Köln wurden wesentlicher Bestandteil seiner Konzerttätigkeit. Er trat bei den Berliner Festwochen, Wien Modern, den Salzburger Festspielen und Festivals in Montreux, Edinburgh, Luzern und Innsbruck auf. 1998 folgte er einem Ruf auf eine Dirigierprofessur an der Musikhochschule Köln.  

SWR Vokalensemble

Gruppenbild SWR Vokalensemble Stuttgart (Foto: SWR, SWR - Jürgen Altmann)
SWR Vokalensemble Stuttgart

Bereits vor 70 Jahren gründete sich das SWR Vokalensemble als Kammerchor von Radio Stuttgart. Dreizehn Sängerinnen und Sänger sangen von einfachen Volksliedern bis hin zu Operetten und Opern für den Sendebetrieb. Geleitet und geformt durch diverse künstlerische Leiter, arbeitete sich der Chor unter Marinus Voorberg in den 1970ern an die Spitze der A-cappella-Chöre. Das Programm änderte sich, hinzu kamen immer mehr Werke des 19. und 20. Jahrhunderts und der Gegenwart, mit denen sich das Ensemble auch im internationalen Ranking einen Namen machte.  

Heute steht das SWR Vokalensemble für Innovation. Es erfindet sich immer wieder neu, setzt sich mit SWR Young CLASSIX für die Vermittlung von klassischer Musik bei Kindern und Jugendlichen ein und wurde sowohl im Rahmen von Wettbewerben als auch für seine Produktionen mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Echo Klassik oder dem Europäischen Chorpreis.

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Katharina Höhne